Weit weg ... nach Hause
hört das durchdringende Geräusch von Schweißgeräten und Bohrern, es wird gehämmert und gesägt, Löcher werden gekittet,
an einer Jolle muss ein gebrochener Mast ersetzt werden. Ein Kajütenboot wie aus einem schwedischen Kinderfilm bekommt einen
neuen Anstrich. Luisa entdeckt eine neue Welt, schaut gebannt in die Werkstätten voller Männer in blauen und rotenArbeitsanzügen mit schmierigen, öligen Händen, ist fasziniert von all den Kisten mit Werkzeug und Schrauben und dem Geruch
von Kraftstoff und gelötetem Stahl. Es riecht neu und fremd und nach Arbeit und nach weiter Welt.
Luisa weiß, dass sie vorsichtig sein muss: Es ist besser, nicht aufzufallen oder gar nicht erst entdeckt zu werden. Sie fährt
weiter und überlegt sich eine Ausrede, falls jemand sie ansprechen sollte.
»Ich bin hier mit meinem Vater verabredet. Der ist Kapitän auf einem Frachtschiff.« – Sie grinst in sich hinein, als sie den
Satz vor sich hin murmelt. Thomas mit Kapitänsmütze, der ein Schiff, beladen mit Sand, über den Rhein lenkt, die Vorstellung
ist einfach zu komisch. Er hat ja schon Probleme, ein Ruderboot heil über einen See zu bringen.
Letzten Sommer, bei einem Ausflug in den Stadtwald, wollte Thomas unbedingt über den See rudern. Mitten auf dem Wasser aber
begann das Chaos. Nicht genug damit, dass er beim Anflug einer putzigen Wespe panisch aufsprang, das Boot höchst kriminell
wackelte, Katja und Luisa ebenso panisch aufschrien und krampfhaft die Bordwand umklammerten, während Carlo versuchte, das
verschreckte, mittlerweile stechbereite Tier zu verscheuchen.
Viel hätte nicht gefehlt, sozusagen ziemlich wenig, und alle vier wären mal nett in dem grünbraunen Stadttümpel baden gegangen.
Zu Thomas’ Entschuldigung muss man sagen, dass er zwei Wochen vorher, beim Pflaumenkuchenessen, von einer Wespe, die sich
in einem Luftloch unter der Sahne versteckt hatte, um genüsslich Süßes zu schlecken, in die Zunge gestochen wurde. Clevere
Wespe, dumm für Thomas. Denn der Ärmste konnte tatsächlich eine Woche lang nichts Festes essen. Seine Zunge war dick wie die
Rinderzunge, die samstags im Schaufenster vom Metzger liegt. Da passte einfach rein gar nichts mehr durch seinen Mund. Außer
ein bisschen Luft zum Atmen und Flüssiges, aber das war ja auch das Wichtigste.
Kaum hatte sich der unter Schock stehende Thomas von dem Angriff der wilden Wespenbestie erholt, keine zehn Minuten später,
ruderte er das Boot derart nah an die Insel, dass es im Schlamm und Schlick der Algen festhing und nur unter größten Mühen
und heftigstem Gewackel wieder frei kam. Überflüssig zu erwähnen, dass der Ausflug und die schöne Sonntags-sind-wir-eine-liebevolle-Familie-Stimmung
gelaufen war. Katjas Laune befand sich weit unter dem Gefrierpunkt,wie immer in Situationen, in denen nicht alles nach Plan läuft. Seit diesem Sonntag ist Luisa klar, dass sie niemals so werden
will wie ihre Mutter.
Luisa radelt weiter, erreicht einen Platz, auf dem türkisfarbene Büro-Container stehen, aufgebockt auf Metallgerüsten, die
Raum schaffen für allerhand Kram, der beim flüchtigen Hinschauen Müll zu sein scheint: meterhohe leere Ölfässer, Plastikkanister,
eine Betonmischmaschine, Holzpaletten, Eisengitter, und daneben parkt ein alter, zugestaubter Mercedes. Voll die Rumpelkammer!
Und doch hat das Durcheinander System.
In der nächsten Straße wohnt wohl jemand. Vor einer Eingangstür, die ein grauer Baldachin überdacht, steht ein halb verrosteter
Kühlschrank neben einem apfelgrünen, scheiben- und scheinwerferlosen Trabi. Ein Kinderholztisch, ein Einkaufswagen aus dem
Supermarkt und ein dicker silberner Eisenschlauch machen neugierig auf die Besitzer.
Hinter matten Fensterscheiben stehen verblasste Plastikblumen. Darüber wölbt sich eine Gardine, gelb vom Rauch unzähliger
Zigarren, deren Endstücke sich neben der Tür in einer Blechschale türmen und vom Regen aufgeweicht zueiner dunkelbraunen Masse zusammenpappen. Luisa guckt sich neugierig um.
Wie von Geisterhand öffnet sich auf einmal die Tür. Eine alte Frau füllt den gesamten Türrahmen, den krummen Rücken gebeugt,
im Mund eine Zigarre so dick wie Luisas großer Zeh.
Luisa schaut erschrocken zu ihr hinüber, will sich schon aufs Rad schwingen, da blicken zwei freundliche, kristallblaue Augen
sie an.
Die Frau nimmt die Zigarre mit spitzen Fingern aus dem Mund:
»Na, du Gör«, sagt sie mit einer Stimme, die an eine
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