Weit weg ... nach Hause
für ihre Naturzeichnungen dienen. Und Skizzenblöcke in verschiedenen Größen braucht
sie unbedingt. Egal!
Sie steckt das Geld in die Reißverschlusstasche ihrer Hose. Mit dem Lexikon legt sie sich wieder ins Bett. Im vorderen Umschlag
ist eine Deutschlandkarte abgedruckt. Zum ersten Mal wird ihr klar, wie lang der Rhein ist. In unzähligen Windungen schlängelt
er sich durch das Land, vorbei an Städten und durch Gebirge. In der Schweiz erscheint er wie ein dünner Strich, aber nach
Norden wird er immer breiter. Luisa muss in den Süden, wo der Rhein entspringt, sie will so weit mit dem Schiff fahren, wie
es irgendwie geht. Ihr Ziel ist Zürich. Dort wohnt Tante Freya, Katjas ältere Schwester.
Die beiden verstehen sich nicht besonders, eigentlich sind sie wie Katz und Maus, schlimmer noch als Carlo und sie selbst.
Katja und Freya sprechenseit drei Jahren kein Wort mehr miteinander. Seitdem Oma Adele, die Mutter der beiden, gestorben ist und Freya mit ihren vier
Kindern das Elternhaus am Zürichsee bezogen hat, ist der Kontakt zwischen den Schwestern komplett abgebrochen.
Für Luisa ist das schrecklich, sie liebt die Tante sehr. Freya hat mit ihr unter Bäumen gelegen und geträumt, mit ihr Kinderlieder
und Abzählreime gesungen, stundenlang krabbelnde Käfer beobachtet und unter höchster Konzentration zappelige Grashüpfer gesammelt.
Sie haben versucht, die Farbe der Libellen mit einem einfachen Wassermalkasten zu mischen, und Luisa war verblüfft, wie viele
Grüntöne der Tante gelangen, als sie den Garten am See mit allen Büschen und Pflanzen in Aquarellfarben malte. Freya hat ihr
die ersten Tipps gegeben, wie man Tiere und Menschen zeichnet, hat ihr beim Mischen von Farbe behutsam die Hand geführt. Geliebte
Tante Freya! Luisas Vorfreude auf die Tante ist viel größer als die Angst vor der langen Reise. Ein bisschen Schiss vor dem
Wiedersehen hat sie auch, denn Freya ist mittlerweile eine berühmte Künstlerin. Sie malt Bilder, die aussehen wie riesige
Fotografien, auf denen kleine Kirchen, die Schweizer Berge oder der Seeund die Stadt Zürich zu sehen sind. Sie hatte schon Ausstellungen in London und New York, die nächste wird in Frankfurt sein.
Luisa hat ein Foto in einer Zeitung gesehen, es zeigte die Tante mit dunklen, langen Haaren in einem schwarzen Kleid; schlank
und schön saß sie unter einer Linde in Omas Garten, der sanft zum See abfällt. Zu ihren Füßen lag Snoopy, der quirlige Retriever,
der Luisa immer mit seiner rauen Zunge das Gesicht ableckte, sobald sie sich zu ihm hinunterbeugte.
Luisa vermisst die Tante und ihre Cousine und die Cousins. Sie weiß nicht, warum sich alle gestritten haben, denn über Familienangelegenheiten
wird mit Kindern ja nicht gesprochen. Zumindest nicht in ihrer Familie.
Mit Tante Freya konnte sie immer über alles sprechen. Sie hatte
immer
Verständnis für ihre Vergesslichkeit. Genauso wie Oma. Freya wird ihr bestimmt auch diesmal zuhören, wird verstehen, warum
sie nicht auf diese Klassenfahrt gehen kann, und wird sie so lange wie möglich verstecken.
Luisa hat in den letzten beiden Tagen alles genau überlegt: In einem Eisenbahnabteil kann man sie schnell entdecken. Zu viel
Risiko! Darum will sie sich auf ein Schiff schleichen und als blinder Passagier mitfahren.
Als sie aufsteht, um das Lexikon ins Regal zurückzustellen, schmerzt ihr Bein gewaltig. Sie schiebt die Schlafanzughose hoch
bis zum Knie: blöder Ratscher! Die Wunde ist noch immer offen und rundherum rot. Mit Wundcreme geht das bestimmt weg. Sie
lässt das Hosenbein hinunter und schleicht auf Zehenspitzen ins Badezimmer. Dort steigt sie auf den Toilettendeckel, nimmt
die Salbe aus dem Arzneischrank, dann bestreicht sie großflächig die Wunde und das Rote. Leise legt sie sich wieder ins Bett.
Die freudige Aufregung auf ihr Abenteuer überdeckt den Schmerz und alles andere.
Eine halbe Stunde vor dem Weckerklingeln schlägt Luisa wie elektrisiert die Augen auf. Endlich Montag! Sie guckt zur Zimmerdecke.
Eine fette Fliege krabbelt zur Deckenlampe. Der Körper glänzt schwarz im matten Schein der Straßenlaterne, die Luisas Zimmer
in ein kaltes Morgenlicht taucht. Im Bett ist es fürchterlich heiß, Luisa schlägt die Daunendecke zurück, von Winter keine
Spur. Der Schlafanzug klebt verschwitzt an ihren Beinen. Kaum steht sie neben dem Bett, zittert sie wie verrückt. Das muss
die Aufregung sein, dass ihr Körper sich für keine
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