WELTEN-NEBEL
Tonfall der alten Frau erkannte Yerina die Dringlichkeit. Sie öffnete den Flügel des Tores etwas weiter und ein Schwall kalter, klarer Luft strömte in den Tempel. Erst jetzt entdeckte sie das kleine Kind, dass sich ängstlich an die Hand der Alten klammerte und das Gesicht in deren Kleidung vergrub. Das Kind war in einen offensichtlich zu großen Mantel gehüllt. Dennoch zitterte es. Yerina konnte nicht erkennen, ob es sich um ein Mädchen oder einen Jungen handelte.
„ Kommt herein und erzählt mir, was geschehen ist. Das arme Kind friert ja.“
Die Alte schob das Kind durch das Tempeltor und trat selbst ein. Sie war noch immer sichtlich aufgeregt. Yerina legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter und bat sie, ihr Anliegen vorzutragen. Sie erfuhr, dass das Kind – es handelte sich um ein Mädchen – der Grund für das zeitlich ungünstige Erscheinen der alten Frau war. Da es in der Nacht zuvor einen heftigen Sturm gegeben hatte, hatte die Frau die Strände um Aaran nach verwertbarem Treibgut abgesucht, welches gewöhnlich bei solchem Wetter angespült wurde. Dabei war sie auf einen großen Berg an Holztrümmern gestoßen. Nach ihrer Beschreibung handelte es sich dabei wahrscheinlich um ein zerschelltes Schiff. Unweit des Trümmerhaufens hatte sie dann ein Bündel entdeckt, das sie genauer in Augenschein nehmen wollte. Dabei hatte sie zu ihrem Entsetzen feststellen müssen, dass es sich dabei um ein kleines, vollkommen durchnässtes Mädchen handelte.
Das Kind war verstört gewesen, hatte unverständliche Worte gemurmelt und nicht auf das, was die Frau zu ihm sagte, reagiert. Zunächst nahm sie das Kind mit in ihre Hütte und gab ihm trockene Kleidung und etwas Essen. Widerspruchslos ließ das Mädchen alles über sich ergehen. Da die alte Frau aber keine Möglichkeit fand, mit dem Kind zu kommunizieren, hielt sie es für das Beste, die Kleine in den Tempel zu bringen. „Ich hoffe, ich belästige Euch nicht zu sehr mit dieser Angelegenheit. Wenn Ihr es wünscht, bringe ich das Kind in ein Waisenhaus.“ Mit diesen Worten schloss die Frau ihren Bericht.
Yerina hatte sich alles geduldig angehört. Die Umstände waren mehr als seltsam. War das Kind etwa mit dem kaputten Schiff angeschwemmt worden? Tausende Fragen schossen ihr durch den Kopf, aber die Klärung würde warten müssen, sie war ohnehin schon spät dran. Sie bedankte sich bei der Frau und gab ihr einige Münzen als Entschädigung für ihre Mühen. Sie versprach der Alten, sich um das Kind zu kümmern und bat sie, am nächsten Mittag wiederzukommen, damit sie weitere Einzelheiten erfragen konnte. Dann nahm sie das Kind bei der Hand und verließ den Tempel durch die rückwärtige Tür, die in den Tempelbezirk führte. Vorerst würde sie das Kind bei einer der Angestellten des Tempels lassen, da sowohl sie selbst als auch alle Priesterinnen und Anwärterinnen in weniger als einer Stunde mit dem Ritual der Wintersonnenwende beginnen mussten.
Gemeinsam mit anderen Gläubigen verfolgte Tharet aufmerksam die Rituale zur Wintersonnenwende. Wie jedes Jahr hatte er es sich auch diesmal nicht nehmen lassen, daran teilzunehmen. Als sich die Priesterinnen für den Rest der Nacht in Meditation versenkten, nutzte er die Zeit, die Ereignisse der letzten Jahre Revue passieren zu lassen und den Göttern für die zahlreichen glücklichen Fügungen zu danken, beginnend mit jenen Begebenheiten, die ihn damals mit den anderen fünf zusammengeführt und zu der Reise zur Rettung der Welt veranlasst hatten.
Vor etwas mehr als sechs Jahren hatte er in diesem Tempel Yerina kennengelernt. Damals war sie noch eine Anwärterin gewesen und hatte alles riskiert, um ihn vor gefährlichen Verfolgern zu retten. Danach waren sie zusammen aus Aaran geflüchtet, hatten Gefahren gemeistert und außergewöhnliche Macht bei sich entdeckt. Auf ihrem Weg waren sie auf Carlynn und Aden sowie Peria und Jeven getroffen, die wie sie über besondere Kräfte verfügten. Auf der Insel der Schwesternschaft der Seherin hatten sie dann auch den Grund für diese göttlichen Gaben erfahren: Sie waren auserwählt, Cytria vor dem Untergang zu erretten.
Ihre Mission war entbehrungsreich und beschwerlich gewesen, aber schlussendlich war es ihnen gelungen, die Gnade der Götter zu erringen.
Seitdem hatten sie, in der sich nach dem Sturz des Königs veränderten Welt, ihren Weg gesucht. Während die anderen vier sich ins Private zurückgezogen hatten, waren Yerina und er aktiv an der
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