Wen das Feuer verbrennt (German Edition)
interessierte er sich nicht mehr für die
Beweggründe der jungen Dame. Bereits Tage später lieferte er die
bestellte Garderobe. Ravenna war sehr zufrieden mit seiner Arbeit.
Sie hatte genügend Anzüge aus feinsten Stoffen, sogenannte
Justaucorps, aber auch Rüschenhemden, Röcke, Westen aus Samt und
Brokat, Kniehosen und Unterhemden. Alles in doppelter Ausführung:
sowohl für die milden Sommer als auch für die kaltfeuchten
englischen Winter. Traurig betrachtete Ravenna ihre bisherige
Garderobe. Sie würde nicht ein einziges ihrer wunderschönen, teuren
Kleider mit nach England nehmen können. Nichts durfte darauf
hinweisen, dass sie eine Frau war. Denn ab jetzt gab es keine Ravenna
Sinclair mehr, sondern nur noch Baronet Sir Raven Sinclair, den
letzten legitimen Erben von Timbergrove.
Kapitel
3
In den folgenden
Wochen lernte Ravenna, was es bedeutete ein Mann zu sein. Ein Mann
ging nicht nur anders, er saß auch anders, stand anders, aß anders,
sprach anders, kleidete sich anders. Plötzlich wurden von ihr Dinge
erwartet, die für eine Frau undenkbar waren! So durfte sie plötzlich
nach Herzenslust fluchen! Sie durfte rauchen! Bei ihrem ersten Zug
aus einer dicken Zigarre bekam sie zwar einen heftigen
Erstickungsanfall, aber das war das Erlebnis wert. Und jetzt wußte
sie auch warum Männer so gerne dem Alkohol zusprachen. Nach ihrem
zweiten Glas Whiskey war sie hoffnungslos betrunken, aber die Welt
war schön und auf ganz eigene Art amüsant. Sie durfte plötzlich
nach Herzenslust angeben!
Zeitung
lesen, sich an Diskussionen beteiligen, Intellekt zeigen waren
plötzlich Pflicht! Ravenna kam zu einem vernichtenden Urteil: Das
Leben eines Mannes bestand
hauptsächlich aus Vergnügen, das einer Frau
nur aus Verboten .
Im großen und ganzen würde ihr künftiges Leben als Sir Raven
Sinclair sehr viel angenehmer und freier verlaufen als ihr
bisheriges. Wobei ihr jetziges Leben dank ihrem Vater schon deutlich
mehr Freiheiten beinhaltete, als das anderer Frauen.
Für fast alle
Situationen im Leben eines Mannes hatten die Sinclairs eine Lösung
gefunden. So hatte Ravenna gelernt ihren üppigen Busen mit einem
Tuch flach an den Körper zu wickeln und ihn unter Rüschenhemden zu
verstecken. Sie verließ grundsätzlich erst dann das Haus, wenn sie
sich auf der eigenen Latrine erleichtert hatte. Kaum auszudenken,
wenn sie in die Verlegenheit kommen sollte eine öffentliche
Herrenlatrine benutzen zu müssen.
Zum Glück hatte sie
von Natur aus eine sehr dunkle, rauchige Stimme. Dennoch lernte sie
monotoner und ohne Überschwang zu sprechen. Zum einen wirkte sie
durch diese Sprechweise etwas gesetzter, zum anderen klang ihre
Stimme noch dunkler. Der fehlende Bartwuchs war ein Problem.
Sogenannte Moustaches, künstliche Bärte, hielten nicht auf Ravennas
zarter Haut. Ihre stille, aber kluge Kinderfrau Eliza nahm daraufhin
jeden morgen etwas Asche und verteilte es mit einer Puderquaste
hauchfein über Ravennas Wangen und Kinn. Auch um die Augen legte sie
eine dunkle Schattenspur. Als Ravenna sich im Spiegel betrachtete
erschrak sie über ihr Aussehen: Ihre Züge wirkten durch diesen
einfachen Trick gleich viel kantiger und tatsächlich maskuliner.
Auch was den richtigen Männerduft anbelangte, war Eliza Stanton
recht erfinderisch. Schweigsam wie immer zerrieb sie Zedern- und
Sandelholz mit etwas Moschuspulver und legte das ganze zusammen mit
ein paar alten Lederschlaufen in Tierfett ein. Ravenna rümpfte die
Nase über das Ergebnis, verteilte das ungewohnt würzige Duftgemisch
aber gehorsam hinter ihren Ohren und an den Handgelenken.
Mit jedem Tag
verwandelte sich Ravenna nicht nur äußerlich, sondern auch
innerlich mehr und mehr in Sir Raven. Selbstsicher ging sie durch
Bombays Straßen, kaufte sich Zeitungen, sprang behende über
Pfützen, pfiff auf den Fingern nach einer Kutsche oder zog vor
vorbeihuschenden hübschen, jungen Damen elegant ihren Hut. Anfangs
war sie fast beleidigt, dass ihr jetzt die Blicke der jungen Männer
nicht mehr wie gewohnt bewundernd folgten. Doch je länger diese
Maskerade dauerte, umso mehr Freude hatte Ravenna an dem
Rollenwechsel und den neugewonnenen Freiheiten.
Mit jedem Tag wurde
ihr Gang stolzer, ihr Rücken gerader, ihre Schultern breiter.
Eliza und ihr Vater
waren mit ihrer nahezu perfekten Verwandlung sehr zufrieden. Wäre da
nicht diese eine Unterrichtseinheit, bei der Ravenna nach wie vor
diesen Druck in der Magengegend verspürte: Ein junger und betuchter
Edelmann wie Sir
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