Wen der Rabe ruft (German Edition)
Markenzeichen.«
Blue war der Meinung, dass es doch wahrhaftig bessere Dinge gab, für die man bekannt sein konnte.
Jetzt, auf dem Kirchhof, murmelte Neeve geheimnisvoll: »Es gibt so viel zu hören.«
Gab es aber eigentlich gar nicht. Im Sommer waren die Hügel voller Leben: Insekten summten, Spottdrosseln führten zwitschernde Unterhaltungen und Raben krächzten empört den Autos hinterher. In dieser Nacht aber war es zu kühl, als dass viel davon sich bemerkbar gemacht hätte.
»Solche Sachen höre ich nicht«, entgegnete Blue, etwas überrascht, dass Neeve darüber nicht längst Bescheid wusste. Das Hellseher-Gen, mit dem ihre gesamte Familie gesegnet war, hatte um Blue einen weiten Bogen gemacht, und so war sie in der Welt, zu der ihre Mutter, ihre Tanten und Cousinen Kontakt hielten und die doch den meisten Menschen verborgen war, nur Zaungast. Das einzig Besondere an ihr war etwas, das sie selbst nicht spüren konnte. »Ich höre von so einem Gespräch genauso wenig wie ein Telefon. Ich mache es bloß für andere lauter.«
Neeve hatte den Blick noch immer nicht abgewandt. »Also darum wollte Maura unbedingt, dass du mitkommst. Bist du etwa auch bei ihren Sitzungen dabei?«
Bei dem Gedanken durchlief Blue ein Schauder. Ein nicht unwesentlicher Teil der Kunden, die zum Fox Way kamen, waren unglückliche Frauen, die darauf hofften, dass Maura in ihrer Zukunft Liebe und Geld sah. Allein die Vorstellung, den ganzen Tag mit denen zu Hause zu sitzen, war unerträglich. Blue wusste, dass ihre Mutter sehr versucht sein musste, sie als Verstärkung ihrer hellseherischen Fähigkeiten an den Sitzungen teilnehmen zu lassen. Als sie kleiner war, hatte Blue es noch nicht zu schätzen gewusst, dass Maura sie so selten zu Hilfe rief, mittlerweile aber, da sie langsam begriff, was für einen starken Einfluss sie auf die Gabe anderer hatte, war sie beeindruckt von Mauras Zurückhaltung.
»Nur, wenn es besonders wichtig ist«, antwortete sie.
Neeves Blick hatte nun endgültig die Grenze zwischen verunsichernd und einfach nur gruselig überschritten. Sie sagte: »Darauf solltest du stolz sein. Die seherischen Kräfte eines anderen steigern zu können, ist eine sehr seltene und kostbare Gabe.«
»Pffft«, schnaubte Blue, aber sie meinte es nicht böse. Eher scherzhaft. Sie hatte sechzehn Jahre lang Zeit gehabt, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie keinerlei Zugang zur Welt des Übernatürlichen hatte. Sie wollte nicht, dass Neeve dachte, sie hätte deswegen eine Identitätskrise oder so etwas. Verlegen zupfte sie an einem Fädchen am Saum ihres Handschuhs.
»Außerdem hast du noch so viel Zeit, deine eigenen intuitiven Fähigkeiten zu entwickeln«, fuhr Neeve fort. Ihr Blick wirkte geradezu gierig.
Blue antwortete nicht. Ihr lag nichts daran, anderen die Zukunft vorauszusagen. Viel lieber wollte sie sich ins Leben stürzen und ihre eigene entdecken.
Endlich senkte Neeve den Blick. Träge ließ sie einen Finger durch den Schmutz auf den Steinen zwischen ihnen gleiten, dann sagte sie: »Ich bin auf dem Weg in die Stadt an einer Schule vorbeigekommen. Aglionby Academy. Gehst du da hin?«
Blues Augen weiteten sich vor Belustigung. Aber gut, wie hätte Neeve als Fremde es auch besser wissen sollen? Andererseits hätte sie sich beim Anblick des riesigen Steingebäudes mit seinem Parkplatz voller Nobelkarossen vielleicht denken können, dass dies nicht unbedingt die Art von Schule war, die sie sich leisten konnten.
»Das ist eine reine Jungenschule. Für die Söhne von Politikern und Ölmagnaten und« – Blue musste einen Moment überlegen, wer überhaupt reich genug sein könnte, um seine Kinder auf die Aglionby zu schicken – »die Söhne von Geliebten, die von Schweigegeld leben.«
Neeve hob, ohne aufzusehen, eine Augenbraue.
»Nein, im Ernst, die Jungs, die da hingehen, sind total schrecklich«, erklärte Blue. Der April ließ die Aglionby nie in einem guten Licht erscheinen: Je wärmer es draußen wurde, desto mehr Cabrios sah man auf den Straßen, aus denen Jungs in so geschmacklosen Shorts stiegen, dass sich wirklich nur Reiche damit vor die Tür wagten. Unter der Woche trugen sie ihre Schuluniform, schicke Stoffhosen zu einem Pullover mit V-Ausschnitt und Rabenemblem. So fiel es leicht, die anrückende Armee zu identifizieren: die Raven Boys.
Blue fuhr fort: »Die halten sich alle für was Besseres und denken, wir Normalsterblichen reißen uns für sie beide Beine aus, und dann saufen sie sich jedes
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