Wen der Rabe ruft (German Edition)
eingebrochen. Was nicht verrottet war, lag unter gierigen Ranken und modrig riechenden Schösslingen verborgen. Die Kirche war von einer Steinmauer umfriedet, deren einzige Öffnung ein überdachtes Tor war, gerade breit genug für einen Sarg und seine Träger. Ein Pfad, der jeglichem Unkraut zu trotzen schien, führte bis vor die alte Kirchentür.
»Ah«, hauchte die rundliche Neeve, die dennoch seltsam elegant neben Blue auf der Mauer hockte. Wie schon bei ihrem ersten Aufeinandertreffen bemerkte Blue abermals Neeves auffallend schöne Hände. Die plumpen Handgelenke gingen in weiche, kindliche Handflächen und schließlich schlanke Finger mit ovalen Nägeln über.
»Ah«, murmelte Neeve wieder. »Heute ist so eine Nacht.«
Sie betonte es so: »Heute ist so eine Nacht «, und Blue überlief unwillkürlich ein Schauder. Seit zehn Jahren hatte sie mit ihrer Mutter an den Vorabenden des Markustags hier Wache gehalten, aber dieses Mal war es anders.
In der Tat, heute war so eine Nacht .
In diesem Jahr hatte Maura, zum ersten Mal und aus für Blue unerfindlichen Gründen, auf die Kirchenwache verzichtet und an ihrer Stelle Neeve geschickt. Dann hatte sie Blue gefragt, ob sie trotzdem mitgehen würde, obwohl die Frage eigentlich überflüssig war. Blue war immer mitgegangen, sie würde es auch dieses Mal tun. Als ob sie sich an diesem Abend je etwas anderes vornehmen würde. Aber sie musste nun einmal gefragt werden. Irgendwann vor Blues Geburt hatte Maura nämlich beschlossen, Kinder herumzukommandieren sei barbarisch, und so war Blue inmitten von lauter Fragezeichen mit Befehlscharakter aufgewachsen.
Blue spreizte die eiskalten Finger und ballte die Hände dann wieder zu Fäusten. Die Säume ihrer fingerlosen Handschuhe begannen bereits auszufransen – sie hatte sie erst letztes Jahr mit nicht allzu großer Sorgfalt gestrickt –, aber immerhin verlieh ihnen das einen gewissen ramponierten Schick. Wäre sie nicht so eitel gewesen, hätte Blue die wärmeren, nur leider auch wesentlich langweiligeren Fäustlinge tragen können, die sie zu Weihnachten bekommen hatte. Aber sie war nun mal eitel, also hatte sie sich für die verschlissenen Exemplare ohne Finger entschieden, tausendmal cooler, aber eben auch weniger warm, und das, obwohl sie dabei sowieso niemand sehen würde außer Neeve und den Toten.
Der April brachte in Henrietta oft schöne, milde Tage hervor und entlockte den schlafenden Bäumen die ersten Knospen, während vor den Fensterscheiben liebeskranke Marienkäfer brummten. Aber nicht in dieser Nacht. In dieser Nacht war es kalt wie im Winter.
Blue warf einen Blick auf ihre Uhr. Kurz vor elf. Die alten Legenden empfahlen Mitternacht für die Kirchenwache, aber die Toten gaben nun mal nicht besonders viel auf Pünktlichkeit.
Anders als Blue, die kein sonderlich geduldiger Mensch war, thronte Neeve auf der alten Kirchenmauer wie die Statue einer Königin: die Hände gefaltet, die Fußknöchel unter dem langen Wollrock gekreuzt. Blue dagegen, zusammengekauert, kleiner und dünner, wirkte wie ein nervöser, blinder Wasserspeier. Blind, weil ihre Augen ihr in dieser Nacht nichts nutzten. Es war eine Nacht für Seher und Weissager, für Hexen und Medien.
Mit anderen Worten: für den gesamten Rest ihrer Familie.
Aus der Stille heraus fragte Neeve: »Kannst du irgendetwas hören?« Ihre Augen glitzerten im Dunkeln.
»Nein«, antwortete Blue, weil sie wirklich nichts hörte. Im nächsten Moment überlegte sie, ob Neeve wohl gefragt hatte, weil sie etwas hörte.
Neeve betrachtete sie mit demselben Blick, den sie auf ihren Website-Fotos aufgesetzt hatte – diesem eindringlichen, überirdischen Starren, das man immer ein paar Sekunden länger ertragen musste, als einem lieb war. Ein paar Tage nach Neeves Ankunft war Blue davon so zermürbt gewesen, dass sie sich bei Maura darüber beklagt hatte. Sie hatten sich gerade zusammen in das einzige Badezimmer des Hauses gequetscht, um sich fertig zu machen, Blue für die Schule und Maura für die Arbeit.
Blue, die versucht hatte, ihre unterschiedlich kurzen dunklen Haarsträhnen mithilfe von Clips zu einem kümmerlichen Pferdeschwanz zusammenzufassen, hatte gefragt: »Muss sie einen immer so anglotzen?«
Ihre Mutter hatte unter der Dusche Muster auf die beschlagene Glastür gemalt. Nun hatte sie lachend innegehalten und ihre Haut hatte durch die langen, sich überschneidenden Linien geblitzt, die sie gezogen hatte. »Ach, das ist nun mal Neeves
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