Wenn alle Schranken fallen
Lydias Hände zitterten leicht.
Das Freizeichen erklang, das Gespräch war beendet. Den Hörer in der Hand, stand sie da und starrte den Apparat an wie ein furchterregendes Ungeheuer.
Wer war dieser hartnäckige Anrufer? Und weshalb belästigte er sie? Die krächzende Stimme ließ sich schwer einordnen. Sie konnte ebenso gut weiblich wie männlich gewesen sein. Glenn hatte sie gewarnt. Eloise ebenfalls. Ihr eigener Verstand riet ihr zur Vorsicht. Und wieder einmal brachte irgendein Fremder seine Warnung an. In den letzten Wochen hatte Lydia verschiedene Anrufe von besorgten Freunden und Bekannten erhalten, die ihr sagten, wie unpassend ihre Freundschaft mit Gordon Cameron sei. Dreimal war ein Anruf des mysteriösen Fremden gekommen. Aber heute hatte der Anrufer sie tatsächlich bedroht!
Mit zitternden Fingern nahm sie das Telefonbuch zur Hand und suchte Gordons Nummer heraus. Hoffentlich nahm er selbst ab.
“Hallo?”, meldete sich eine helle Stimme.
Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie daran, aufzulegen, entschied sich aber dagegen. “Hallo, Molly. Hier ist Lydia. Kann ich bitte deinen Vater sprechen?”
“Ja, eine Minute.” Es folgte ein Moment Stille, dann hörte Lydia das Kind rufen: “Daddy, für dich!”
Die Minuten verrannen. Womöglich hatte Molly die Aufmerksamkeit ihres Vaters nicht gewonnen und den Anruf einfach vergessen …
“Ja?” Gordons Stimme klang verärgert.
“Hier ist Lydia Reid. Ich hoffe, ich rufe nicht zu einem unpassenden Zeitpunkt an.”
“Lydia?”
“Entschuldige die Störung, aber ich wollte dich fragen, ob du vielleicht heute Abend bei mir vorbeikommen könntest.” Es fiel ihr schwer, aber ihr blieb keine Wahl. Diese “Beziehung” zwischen ihnen musste enden, bevor sie einen Schritt weiterging. Wenn Gordon sie um mehr als Freundschaft bat, würde sie nicht ablehnen können. Es war nur noch eine Frage der Zeit.
In jedem Blick, jedem Lächeln, jedem Wort und jeder Berührung lag eine unterdrückte Sinnlichkeit, die sich nur eine gewisse Zeit in Schach halten ließ. Früher oder später musste sie ausbrechen und sie beide zerstören.
“Ist etwas passiert?”
“Nein. Ich muss dich einfach sehen und so bald wie möglich mit dir sprechen.”
“Wäre dir in einer Stunde recht?”
“Ja. Danke.”
Zögernd stand Gordon vor Lydias Hintertür. Lydia wollte ihm auf Wiedersehen sagen, das wusste er intuitiv. Er war ein Narr gewesen, weil er weiterhin hergekommen war. Früher oder später musste es Ärger geben. Die netten Leute von Riverton würden nicht zulassen, dass sich ihre frühere First Lady mit Gordon Cameron einließ, dem Raufbold vom Lande, dessen Ehefrau mit ihrer Herumtreiberei den ganzen Bezirk schockiert hatte.
Wieso war er überhaupt Woche für Woche zurückgekehrt? Hormone vermutlich. Gordon begehrte Lydia so sehr, dass er nachts aufs höchste erregt wach lag. Warum machte sie ihn nur so verrückt?
Die Glastür glitt auf. Gordon sah auf, direkt in Lydias haselnussbraune Augen. Leo winselte. Zunge und Schwanz wedelten im Takt, als der kleine Hund auf und ab hüpfte.
“Ich habe deinen Wagen gehört”, begrüßte Lydia Gordon. “Bitte komm rein.”
Er betrat das Haus und öffnete den Reißverschluss seiner Lederjacke. Wohlige Wärme umgab ihn, der Duft von Holz, das im Kamin brannte, lag in der Luft. Leo umkreiste Gordon, bevor er an dessen Stiefeln schnupperte.
“Soll ich sie aufhängen?” Lydia nahm ihm die braune Jacke ab. “Leo, benimm dich!”
“Du hast gesagt, wir müssten so bald wie möglich miteinander reden.” Gordon wollte keine Zeit mit Höflichkeiten verschwenden. Wenn sie ihn aus ihrem Leben werfen wollte, sollte es schnell und sauber geschehen. Keine Ausschmückungen, kein leeres Gerede.
“Setz dich, ich mache uns schnell Kaffee.”
“Keinen Kaffee”, wehrte er ab.
“Gut.” Sie setzte sich auf die Couch und klopfte einladend auf das Kissen neben sich. Leo legte sich ihr zu Füßen.
Gordon konnte sie nicht ansehen. Er wollte nicht das Mitleid in ihren Augen sehen, diesen “Es-tut-mir-so-leid,-dass-wir-keine-Freunde-sein-können"-Blick. “Sag einfach, was du zu sagen hast.”
“Bitte, Gordon, setz dich.” Warum sieht er mich nicht an? fragte sich Lydia. Ahnt er bereits, was ich ihm sagen will? Ist der Klatsch auch zu ihm vorgedrungen?
Nur widerwillig setzte er sich, wobei er einen gewissen Abstand zu ihr hielt. Es fehlte noch, dass er sie berührte. Dann wäre endgültig alles zu spät. “Ich kann nicht
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