Wenn alle Schranken fallen
niemand, dass … dass du irgendeine … intime Beziehung mit Cameron hast. Wie dem auch sei, seine regelmäßigen Besuche machen einen schlechten Eindruck. Du solltest ihm wirklich die Situation erklären, bevor er sich noch mehr in dein Leben drängt.”
“Ich danke dir für deine Besorgnis, Glenn.” Lydia begleitete ihren Nachbarn auf die Terrasse. “Ich bin wirklich ziemlich müde. Wenn es dir also nichts ausmacht …”
“Sicher, sicher.” Glenn ging die Treppe hinunter. Auf dem Bürgersteig blieb er stehen und winkte ihr zum Abschied zu. “Vergiss nicht, ich bin nebenan, wenn du mich brauchst.”
Lydia zwang sich zu einem Lächeln, winkte freundlich und schloss langsam die Haustür. Dann kickte sie aufatmend ihre Pumps mit den neun Zentimeter hohen Absätzen von den Füßen.
Wenig später machte Lydia es sich in bequemer beigefarbener Hose und passendem Pullover mit einer Tasse Kaffee auf der Couch gemütlich. Die Spätnachmittagssonne fiel durch die Bäume im Garten und warf die ersten Schatten in das Wohnzimmer.
Nur selten hatte Lydia während ihrer vierjährigen Ehe mit Tyler einen Sonntagnachmittag in Ruhe zu Hause verbracht. Ständig mussten sie wichtige Leute treffen oder Dinnerpartys geben.
In ihrem ersten, romantischen Ehejahr war sie so in ihren gutaussehenden jungen Ehemann verliebt gewesen, dass sie seinen Launen gern nachgab. Sogar nachdem der rosarote Schleier verblasst war und sie akzeptieren musste, dass ihre Liebe nie die große Leidenschaft werden würde, spielte sie die Rolle der perfekten Ehefrau, was Tyler ihr dankte, indem er sich Geliebte nahm. Die ganze Zeit hatte Lydia die Wahrheit vermutet, aber nicht die Kraft besessen, sich damit auseinanderzusetzen. Lieber hielt sie weiterhin die Fassade einer glücklichen Ehe aufrecht.
Den köstlichen süßen Kaffeegeschmack noch auf der Zunge, richtete Lydia ihre Aufmerksamkeit auf den Fernsehschirm, wo einer ihrer Lieblingsfilme lief. John Wayne und Maureen O'Hara füllten den Raum mit ihrer magischen Ausstrahlung. Wie stets bei dieser besonderen Szene aus “Der Sieger” schmolz Lydia dahin. Der Wind strich durch Maureen O'Haras leuchtend rotes Haar, während sie in John Waynes leidenschaftliche Umarmung sank. Einen weltbewegenden Augenblick lang teilte Lydia die Gefühle der Heldin. Mit geschlossenen Augen spürte sie starke Arme, die sie hielten, fordernde Lippen, die sich auf ihre pressten.
Urplötzlich wusste sie, dass Gordon sie lieben würde.
Lydia riss die Augen auf. Ihr Herz raste. Nein! Wie konnte sie an Gordon denken, wenn ihr Mann erst einige Monate tot war? Sie hatte versucht, sich einzureden, dass sie nichts außer Mitgefühl und Verständnis für Gordon empfand. Ihre Bekanntschaft war nur etwas, das sie beide kurze Zeit nötig hatten, bis sie den Schock über den Tod ihrer Ehepartner überwunden hatten.
Aber sie konnte das intensive Verlangen nicht leugnen, das sie jedes Mal empfand, wenn sie an Gordon dachte – und Lydia dachte oft an ihn. Mehr als einmal hatte er sich in ihre Träume geschlichen, und in diesen Träumen erlebte sie all die Leidenschaft, die in ihrer Ehe gefehlt hatte.
Diese Gefühle waren falsch. Trotzdem konnte Lydia sie nicht ändern. Vielleicht hatte Glenn recht. Sie sollte Gordon erklären, wie leicht man die Situation missverstehen konnte. Schließlich musste sie ihren guten Ruf bewahren und er ebenfalls – vor allem wegen seiner Tochter.
Außerdem – wie lange würde ihre Beziehung noch platonisch bleiben, wenn sie sich weiterhin trafen? Gordons Freundschaft bedeutete ihr viel. Er war so wichtig in ihrem Leben geworden – viel zu wichtig.
Lydia warf einen Blick auf ihre Uhr und fragte sich, was Gordon um vier Uhr an einem Sonntagnachmittag machte. Vielleicht sollte sie ihn anrufen. Hätte sie doch nur den Mut besessen, das auszusprechen, was gesagt werden musste, als er und Molly gestern bei ihr gewesen waren. Durch seine Besuche an den letzten sechs Samstagen hatte sie den großen, rauen Farmer allmählich kennen- und schätzengelernt.
Gordon besaß eine innere Kraft. Lydia genoss es, ihn zu beobachten, und sie liebte den Klang seiner tiefen, sanften Stimme, die vor Sinnlichkeit vibrierte.
Das schrille Läuten des Telefons schreckte Lydia aus ihren Gedanken. Sie ging zum Schreibtisch und nahm den Hörer ab. “Hallo?”
Schweigen.
“Hallo”, meldete sie sich erneut.
“Halten Sie sich von Gordon Cameron fern, oder es wird Ihnen leidtun”, flüsterte eine Stimme.
“Was?”
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