Wenn alle Schranken fallen
1. KAPITEL
D as ist er!
Lydia Reid warf einen zweiten schnellen Blick auf den großen, dunkelhaarigen Mann in verwaschenen Jeans und Stetson. Was machte er hier in Clements Futtermittelhandlung? Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Schnell schlüpfte sie hinter eine Reihe von der Decke herabhängender Töpfe mit großen Farnen und sah sich nach einem Versteck um.
In den zwei Monaten seit Tylers Tod hatte niemand vor ihr den Namen Cameron erwähnt. Kein einziges Mal. Nur selten hatte sie seither mehr als ein paar Minuten für sich allein gehabt. Sämtliche Einwohner der Stadt gingen bei ihr ein und aus, brachten Essen und Blumen und überschütteten sie mit ihrem Mitleid. Ebenso wie ihre Mutter und ihr Bruder, die sich abwechselnd um Lydia kümmerten, vermieden ihre Besucher tunlichst jede Erwähnung der besonderen Umstände, die mit Tylers tragischem Tod zusammenhingen. Offenbar waren alle entschlossen, sie vor der schrecklichen Wahrheit zu beschützen: Macie Cameron war bei demselben Unfall ums Leben gekommen, der Bürgermeister Reid das Leben gekostet hatte.
Seit jener schrecklichen Nacht, in der sie Gordon Cameron zum ersten Mal begegnet war, schlich er sich oft in ihre Gedanken. Zu oft. Glücklicherweise verkehrten sie nicht in denselben Kreisen. So war es leicht gewesen, ihm aus dem Weg zu gehen. Aber falls Lydia nicht bald eine Möglichkeit fand, sich unbemerkt davonzuschleichen, musste sie ihm heute gegenübertreten.
Lydia senkte ein wenig den Kopf und spähte unter dem Farn hindurch. Gordon sprach gerade mit einem Mann, der ebenso groß und dunkelhaarig war wie er. Obwohl der andere einen Bart trug und hässliche Narben die linke Hälfte von Stirn und Hals entstellten, waren die beiden offensichtlich Brüder. Die Ähnlichkeit war unverkennbar.
“Wenn ich hier fertig bin, gehe ich noch auf ein Bier rüber ins ‘Lewey’s’”, erklärte Gordon.
“Tanya und ich treffen dich dann dort. Sie ist drüben bei Billings und sieht sich nach einem neuen Sonntagskleid um.”
Als sich der Jüngere zum Gehen wandte, legte Gordon ihm die Hand auf die Schulter. “Ben?”
“He, mir geht es prima. Du hast selbst genug Probleme, mach dir um mich keine Sorgen.”
Lydia kam sich vor wie eine Lauscherin, weil sie hier stand und eine private Unterhaltung mit anhörte. Scheinbar hatte der jüngere Cameron-Bruder einige persönliche Probleme.
Sie blickte sich um. Rechts und links von ihr befanden sich zwei lange Gänge mit eingetopften Sommerblumen. Hinter ihr waren Säcke mit Gartendünger vor der Wand aufgestapelt. Hätte sie geahnt, dass Gordon Cameron heute in Clements Futtermittelhandlung auftauchen würde, hätte sie bis Montag gewartet, um den bestellten Rosenstrauch abzuholen.
Abgelenkt von ihren Fluchtgedanken, bemerkte Lydia nicht, wie Gordon sich ihr näherte.
“Hallo.”
Bei dem unerwarteten Klang seiner Stimme zuckte Lydia zusammen. Bevor sie sich langsam umdrehte, versuchte sie ihre zitternden Hände unter Kontrolle zu bekommen. “Hallo, Mr Cameron.”
In ihrem Bauch breitete sich ein Kribbeln aus. Er sah genauso aus, wie sie ihn aus dem Krankenhaus in Erinnerung hatte. Diesen Mann umgab etwas überwältigend Männliches, eine Aura von Stärke, die Lydia magnetisch anzog.
“Hier bei Clements hätte ich Sie ganz bestimmt nicht erwartet.” Gordon ließ sie nicht aus den Augen. Ihre geröteten Wangen und die strahlenden Augen verrieten ihre Verlegenheit.
“Weshalb nicht?” Du liebe Güte, ist er groß, schoss es Lydia durch den Kopf. Er musste mindestens einsneunzig sein.
“Eigentlich dachte ich, Sie hätten einen Gärtner für solche Aufgaben.”
Seine Augen waren dunkelbraun und wirkten fast schwarz, so wie sein Haar.
“Wir … das heißt ich, beschäftige einen Gärtner, aber meine Rosen rührt er nicht an.” Mit einem tiefen Atemzug versuchte sie, ihre Nerven zu beruhigen. Die schwache Citrusnote seines Aftershave überdeckte den Geruch von Blumenerde und blühenden Pflanzen und benebelte Lydias Sinne. “Ich wollte meinen Rosenstrauch abholen. Clyde hat eine neue Tropicana für mich bestellt.”
“Tropicana?” Lydia Reid sah wirklich reizend aus, mit ihrem blassen Teint und der grazilen Figur.
“Eine orangerote Rose.” Warum beendete er nicht endlich das Gespräch und verschwand? Seine Nähe verwirrte sie mehr, als sie zugeben wollte.
“Sie würden sich großartig mit meiner Mutter verstehen.” Bei der Vorstellung, welch ein gegensätzliches Paar Lydia und seine Mutter abgeben
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