Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn der Acker brennt

Wenn der Acker brennt

Titel: Wenn der Acker brennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Maerker
Vom Netzwerk:
Jahr und einen Monat nach Christines Geburt:
    »Ab heute bestimme ich, was ich tue. Ich habe meine alten Tagebücher verbrannt. Es war ein befreiendes Gefühl. Ich werde J. sagen, dass er sich keine Gedanken mehr machen muss, ob ich möglicherweise zu anhänglich werde. Er wird mich bald los sein. Mama hat eine Schule für mich gefunden. Ich habe mir vorgenommen, sie mit einem guten Abschluss zu verlassen, und dann werde ich Journalistin.«
    Christine fragte sich, warum ihre Mutter das Buch wohl versteckt haben mochte? Sie schlug die letzte Seite auf, um zu sehen, welchen Zeitraum die Aufzeichnungen umspannten. Die letzte Eintragung stammte vom 20. August 1982. Die Seiten danach fehlten. Jemand hatte sie herausgerissen.
    »War mit J. in D.s Feld. Ich wollte es nicht mehr tun, aber ich kann nicht anders. Warum fasziniert er mich nur so? Ich weiß doch, dass er nicht gut für mich ist.«
    Wer war A . L .? Und wer war dieser J., von dem sie nicht loskam? Christine blätterte durch die Seiten, fand aber keinen Hinweis. Zudem war kein einziger Name in dem Tagebuch ausgeschrieben und sie konnte auch nicht herausfinden, wo die Verfasserin des Tagebuchs gelebt hatte. So wie sie ihren Alltag schilderte, schätzte Christine sie auf fünfzehn oder sechzehn Jahre. Die kleinen Auseinandersetzungen mit Freundinnen, die Lästereien über zu strenge Lehrer, die endlosen Listen über das, was sie gegessen hatte und was sie davon in Zukunft nicht mehr anrühren durfte, um nicht als Zirkuselefant zu enden. Bis auf den letzten Eintrag deutete nichts darauf hin, dass dieses Mädchen ein besonderes Problem gehabt hatte, und doch gab es offensichtlich etwas, das es sehr wütend gemacht hatte.
    Christine fragte sich, was wohl auf den letzten Seiten des Tagebuchs gestanden und wer diese Seiten herausgerissen hatte? Das Mädchen selbst, weil die Aufzeichnungen ihm peinlich waren und niemand sie lesen sollte? Christine dachte an ihre eigenen Tagebücher, die sie irgendwann im Kaminfeuer bestattet hatte. Oder war es dieser J., dem nicht gefiel, was dort stand? Oder Betti? Aber warum hätte ihre Mutter das tun sollen?
    Mittlerweile war es beinahe dunkel, und sie konnte die Buchstaben kaum noch entziffern. Sie schaltete die Tischlampe mit dem bunten Glasschirm ein und schubste dabei die Schatulle versehentlich auf den Boden. Erst jetzt bemerkte sie die eingelassene Schublade.
    »Welches Geheimnis hast du vor mir verborgen, Mama?«, flüsterte Christine und nahm das Foto heraus, das darin versteckt war.
    Sie schüttelte die Schatulle, um herausfinden, ob sich noch etwas darin verbarg, und plötzlich rutschte eine feine goldene Halskette mit einem Anhänger heraus, ein Edelweiß in einen blauen Stein eingefasst. Nachdem sie die Kette eine Weile andächtig betrachtet hatte, schaute sie auf das Tagebuch und das Foto.
    Das Bild zeigte einen Friedhof, dicht an einem Wald gelegen. Die Gräber waren mit mächtigen Holzkreuzen geschmückt. Auf dem Kreuz im Vordergrund konnte sie die Inschrift deutlich erkennen: » AMATA LACHNER , 21. Januar 1967   –   23. August 1982. Vergib uns!«
    Das Grab war gepflegt und mit dunkelroten Rosenblättern übersät. Lachner war der Mädchenname ihrer Mutter gewesen. Amata Lachner! War sie etwa mit der Toten verwandt, oder war es nur eine zufällige Namensgleichheit? Aber hätte ihre Mutter das Tagebuch und die Schatulle allein wegen des Namens aufgehoben? Ohne Bezug zu diesem Mädchen?
    Je länger Christine das Foto betrachtete, umso mehr fühlte sie sich zu Amata hingezogen. Wo war dieser Friedhof? An der Straße, die sie im Hintergrund erkennen konnte, stand ein Ortsschild, dessen Aufschrift aber mit bloßem Auge nicht zu entziffern war. Eine Lupe würde helfen. Die Lesebrille ihres Vaters! Christine kramte sie aus dem Nachttisch hervor und hielt sie über das Bild. Der Ortsname wurde deutlicher: Sinach.
    Sie holte den Laptop aus ihrem Zimmer und hatte wenig später herausgefunden, dass Sinach ein vom Tourismus gerade entdeckter Ort in den bayerischen Alpen war. Wieder nahm sie das Tagebuch in die Hand und begutachtete den blauen Stoff, der sich an der Vorderseite ein wenig gelöst hatte. Als sie genauer hinsah, entdeckte sie einen Schriftzug auf dem weißen Pappeinband darunter. Vorsichtig hob sie den Stoff an.
    »Amatas Tagebuch«, stand dort mit schwarzem Filzstift geschrieben.
    Christine presste es an ihre Brust, schloss die Augen und horchte in sich hinein. Sie würde Amata nicht einfach wieder vergessen

Weitere Kostenlose Bücher