Wenn der Wind dich ruft
Adrian und Larkin her, seine schlurfenden Schritte beinahe jugendlich schwungvoll. Portia sank auf die Marmorstufen, die auf die Galerie im Obergeschoss führten, insgeheim dankbar für ein paar Minuten der Ungestörtheit.
Sie konnte kaum glauben, dass sie vor nur zwei Nächten in Julians Armen durch diesen Ballsaal gewirbelt war. Es war sogar noch schwerer zu glauben, dass sie nie wieder dieses wunderbare, berauschende Glück erfahren würde, das sie dort gefunden hatte. Beinahe wünschte sie sich, er hätte ihr ein Kind schenken können. Sie hätte mit Freuden die Schande getragen, mit der die Gesellschaft sie garantiert bedenken würde, nur um etwas zu haben, das sie an ihn erinnerte. Vielleicht einen kleinen Jungen mit spitzbübisch funkelnden, dunklen Augen und einem verwegenen Grinsen. Bei dem Gedanken durchbohrte sie jäher Schmerz.
Sie sprang auf, angewidert über sich selbst, weil sie so selbstsüchtig war, davon zu träumen, ihr eigenes Kind in den Armen zu halten, während die kleine Eloisa der Gnade dieser seelenlosen Ungeheuer ausgeliefert war. Rastlos schritt sie auf und ab, schaute zu, wie das letzte Sonnenlicht verblasste. Unfähig, die bedrückenden Schatten, die unheilvoll näher krochen, zu ertragen, hängte sie sich die Armbrust über die Schulter, holte eine Zündschachtel aus der Tasche ihres Reitrockes und zündete mehrere der Kerzen an, die überall im Raum verteilt standen.
Als sie ihre Armbrust wieder in die Hand nahm und sich vom Fuß der Treppe aus umschaute, sah sie vor ihrem geistigen Auge Julians Augen im Kerzenlicht funkeln, spürte seine kräftige Hand in ihrem Rücken, mit der er sie bei jeder anmutigen Bewegung seiner Hüften näher an sich zog, mit jedem schwindelerregenden Wirbel über die Tanzfläche. Die welken Blätter hatten bei jedem Schritt unter ihren Füßen geraschelt, ein akustischer Kontrast zu der schwungvollen Melodie des Walzers.
Als Portia ihre Augen schloss, hätte sie schwören können, sie hörte abermals die Musik, wie ein gespenstisches Echo, das an ihr Ohr drang. Sie legte den Kopf schief, so überwältigt vor Sehnsucht, dass sie einen Moment benötigte, um zu merken, dass sie keinen Walzer hörte, sondern ein Wiegenlied. Und es wurde von einer Frauenstimme mit einem leichten französischen Akzent gesungen.
Die Haare in ihrem Nacken sträubten sich. Sehr behutsam schlug sie die Augen auf und drehte sich um.
Valentine stand oben an der Treppe, genauso wie sie es in jener Nacht getan hatte. Portia hob instinktiv die Armbrust, ließ sie aber sofort wieder sinken. Denn Valentine wiegte zärtlich in ihrem Arm die schlafende Eloisa.
19
Portia schaute ihrer Nichte forschend in das kleine Gesicht unter den honigfarbenen Locken, hin- und hergerissen zwischen grenzenloser Erleichterung und namenlosem Entsetzen. Eloisas Mund war im Schlaf zu einer perfekten kleinen Rosenknospe gespitzt, ihre Wangen sanft gerötet. Ihr Hals war unversehrt, und ihre Brust hob und senkte sich gleichmäßig unter dem rüschenbesetzten Oberteil ihres Nachthemdchens. Sie schien am Leben und unverletzt zu sein.
Portia hätte sich am liebsten vor Ärger selbst geohrfeigt, als sie erkannte, dass Valentine nur aus dem Raum gekommen sein konnte, den sie und Adrian nicht gründlich durchsucht hatten: das Zimmer mit den Ketten an der Wand und den grässlichen Flecken auf dem Boden — Ketten, an denen man ziehen und Haken, die man drehen konnte, um die Tür zu einer Geheimkammer oder einem Gang zu öffnen.
Ihre Finger glitten zärtlich über die Armbrust. Sie wusste, sie hatte keine Chance, einen Pfeil auf Valentines Herz abzuschießen — so lange nicht, wie sie Eloisa als lebendigen Schutzschild benutzte.
Ellie war stämmig wie ein kleines Pony, aber die schlanken, blassen Arme der Vampirin schienen nicht müde zu werden, sie zu halten. Ihre übernatürliche Stärke würde ihr vermutlich erlauben, das Kind stundenlang zu tragen, ohne einen einzigen verkrampften Muskel zu spüren.
»Ich hatte selbst mal ein Kind, weißt du?«, sagte Valentine leise und blickte liebevoll auf Eloisa. Portia wurde es eiskalt ums Herz. »Ein kleines Mädchen, fast so wie diese Kleine hier.«
»Was ist mit ihm geschehen? Haben Sie es gefressen?«
Valentine bedachte sie mit einem tadelnden Blick. »Natürlich nicht. Nachdem ich bei einem Spaziergang entlang des Ufers der Seine überfallen und in einen Vampir verwandelt worden war, habe ich sie nie wieder gesehen. Ich habe mich oft gefragt, was aus ihr
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