Lesereise - Afrika
Kairo, wenn es Nacht wird, wenn es Tag wird
Eines Nachts schlendere ich durch die leeren Straßen von Old Cairo und sehe unter dem fahlen Schein einer Laterne jemanden stehen, der mich herüberwinkt. Seine Handbewegung hat etwas seltsam Suggestives. Ohne zu zögern gehe ich auf ihn zu. Als ich vor ihm stehe, umarmt er mich und fährt behutsam mit den Fingern über mein Gesicht. Er zieht mich zu sich heran, und ich erkenne seine toten Augen. Er küsst meine Stirn. Einmal, sacht, ohne freche Intimität. Der Alte sagt nichts, und ich habe den Kuss wohl verstanden. Er ist blind, und er ist allein. Wer immer hier durch diese verlassene Gasse kommt, wird geküsst. Als Heilmittel gegen die Einsamkeit. Seine. Und die des Fremden.
Im Westen beginnen Märchen mit »Es war einmal«. Hier heißt es Kan ya makan , was wohl so viel bedeutet wie »Es gab einmal, es gab einmal nicht«. Vielleicht passierte es, vielleicht passierte es nicht. Die arabische Sprache ist zuallererst Zauberer. Um eine Wirklichkeit herzustellen, die in der Realität nicht stattfindet. »Ein Morgen voller Segen, ein Morgen voller Licht«, so begrüßen sie sich hier. Auch wenn der Tag trüb ist und düster, auch wenn sie im nächsten Augenblick zurückkehren zum Unrat und den Pariahunden ihrer Straßen. Ihr Leben ist schwer und ihre Worte sind leicht. Die träumen.
Weiß jemand ein offensichtlicheres Beispiel für die Verführungskraft der arabischen Sprache als jene tausend Nächte lang fantasierende Scheherazade, die um ihr Leben plappert, um nicht wie alle anderen Jungfrauen vor ihr den hübschen Kopf abgeschlagen zu bekommen?
Ich muss aufpassen. Die Lust zum Träumen ist ansteckend. Ich war zu lange in Arabien. Die Geschichte vom Alten, der mich umarmte: So steht sie in meinem Tagebuch. Alles andere ist längst umstritten. Ich schwöre, dass ich wahr sein will. Aber schon fühle ich mich schwach, benebelt von einem Land, dessen Sprache zum Fliegen taugt, zum Abheben und Fantasieren. Nur eiserne Disziplin wird helfen. Um nüchtern zu bleiben und zu berichten, was war, und was nicht. Auf der Reise durch Kairo und den weiten Weg hinunter in den Süden.
Nüchtern, schreibe ich. Und schon am nächsten Tag rauscht mir der Kopf. Wieder winkt jemand herüber. Diesmal Bauarbeiter, die mich zu ihrer Mittagspause einladen. Das Teewasser zischt, die Wasserpfeife blubbert. Ein strahlender Dicker kommt dazu. Er packt sein Haschisch aus, mischt es mit dem Tabak der Pfeife und streckt mir das Mundstück entgegen. Ich sauge dankbar und frage zerstreut nach den Vorsichtsmaßnahmen. Ob die Gegend – taghell im Nobelviertel El Zamalik – sauber sei, ohne zudringliche Polizei. Der Dicke grinst hämisch und zieht seinen Ausweis heraus. Einmal bin ich fällig, ich wusste es. »Inspector Mohamed G.« steht da. Links oben klebt sein Bild. Der perfide Fettkloß, unverkennbar. Mein Schreck gefällt ihm. Dann kichert er: »No problem, no, no.« Inniges Gelächter der Umstehenden. Hier spitzelt niemand, ab sofort rauchen wir unter Polizeischutz.
Kairo bremst keiner mehr. Wie ein gefräßiges Monster lauert es an den beiden Seiten des Nils und frisst sich in die Wüste. Mit Mexico City rast es um die Wette, wird irgendwann siegreich und tot das Rennen beenden. Ausgelöscht von zu vielen Menschen, zu vielen Tieren, zu viel Erschöpfung. Eine Sprache für das Monster gibt es schon lange nicht mehr. Zu maßlos wuchern seine Ausmaße. Ich will nur Nahaufnahmen liefern. Mit etwas Glück verschaffen sie eine Ahnung von der Totalen.
Ich kaufe einen Stadtplan. Ein letzter Versuch, die Stadt wenigstens virtuell in den Griff zu bekommen. Sie so zu verkleinern, dass aus fünfhundert Metern ein Zentimeter wird. Ein hilfsbereiter Mensch kommt dazu, will mir helfen beim Entschlüsseln der Gigantomanie. Und was macht der? Fassungslos starrt er auf das Papier und stellt es auf den Kopf. Wie aufschlussreich: Kairo, seine Welt, scheint zu groß. Er dreht sie herum, vielleicht kommt er ihr dann näher. Gandhi fällt mir ein, der meinte, der Umfang eines Dorfes wäre uns gemäß. Alle anderen Größen würden uns überfordern, uns einsamer machen.
Hätte ich irgendeine Gebrauchsanweisung abzuliefern, ich würde verfahren wie Elias Canetti, bevor er nach Marokko aufbrach, um seine »Stimmen von Marrakesch« zu schreiben: Jeden Reiseführer in die Mülltonne werfen und vertrauen auf den Zauber und die Heimlichkeiten, die seit Jahrtausenden da sind. »Stay hungry«, notierte Henry Miller einmal.
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