Wenn Die Nacht Anbricht
große Frau mit einem Baby im Arm. Und dann hat sie das Baby einfach reingeworfen.«
»Warum sollte sie so was tun, während du ihr zusiehst?« Sie sagte das, als wäre sie erwachsen und nicht erst vierzehn und damit nur fünf Jahre älter als ich.
»Sie hat mich nicht gesehen.« Meine Stimme klang schrill, und in meiner Brust schmerzte es, so sehr wollte ich, dass sie mir glaubte. Ich trat an den Brunnen und versuchte, den Deckel wegzuschieben, aber er war zu schwer. »Schau selbst rein.«
»Du spinnst.«
»Virgie«, flehte ich.
Es schien ihr leidzutun, und sie trat zu mir, um mir über die Haare zu streichen, wie Mama das immer tat, wenn ich mich über etwas aufregte. »Vielleicht hast du’s geträumt. Vielleicht hast du beobachtet, wie jemand an der Veranda vorbeigeht, und dann hast du’s dir vorgestellt.«
»Nein, hab ich nicht. Wir müssen in den Brunnen schauen.«
»Woher weißt du, dass es ein Baby war?«
»Es war eins.«
»Hat’s geweint?«
»Nein.«
Jetzt wirkte sie doch etwas beunruhigt und starrte in die Nacht hinaus, anstatt mich anzuschauen. »Vielleicht hat jemand seinen Abfall reingeworfen, um uns zu ärgern. Aber wer würde so was tun?«
»Das war kein Abfall. Es war ein Baby. Und jetzt sag ich’s Papa.«
Ich drehte mich um, ging ins Haus und marschierte zur vorderen Veranda. Virgie folgte mir dicht auf den Fersen. In dieser letzten Augustwoche gab es abends genug Wind, um das Gesicht zu kühlen, aber nicht genug, um einen Tag voll heißem Sonnenschein wegzupusten. Gegen Ende des Sommers war die Sonne immer doppelt so groß wie sonst. Wir blieben alle im Freien, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen. Papa und Mama saßen in ihren Schaukelstühlen. Mama schälte Erbsen, und Papa rauchte eine Zigarette. Sie wurden von den Lampen im Wohnzimmer angestrahlt. Papa war noch immer rußig, obwohl er schon mehrmals sein Gesicht und seine Hände gewaschen hatte. Er war mehr bläulich als rabenschwarz.
Virgie sagte es, bevor ich dazu kam. »Tess sagt, sie hat gesehen, wie jemand was in den Brunnen geworfen hat.«
Papa nahm mich an der Hand und zog mich zu sich. Er legte einen Arm um meine Taille und setzte mich auf seinen Schoß. Ich fasste nach seiner ledrigen Hand, ehe ich mich enger an ihn schmiegte.
»Was hast du gesehen, Tessie?«
»Da war eine Frau, Papa. Und sie hatte ein Baby in einer Decke im Arm, und dann hat sie’s in den Brunnen geworfen.« Ich sprach langsam und bedächtig.
Papa hob mit seinem Fingerknöchel mein Kinn an. »Da draußen ist’s dunkel. Vielleicht hast du nur Schatten gesehen.«
Ich schüttelte den Kopf, bis sich eine Haarsträhne aus meiner Schleife löste. Meine Haare lösten sich immer von selbst. (Virgie fiel ihr blondes Engelshaar bis zu den Schultern herab, und sie drehte es zu Locken, so dass sie wie eine der Frauen aus den Zeitschriften aussah, die es am Kiosk zu kaufen gab.)
»Ich hab sie gesehen. Ehrlich. Ich hab an der Tür gelehnt, und mir wurde kalt, und deshalb wollte ich grad reingehen. Aber dann hab ich bemerkt, wie sie die Straße entlangkam. Ich weiß nicht, wer die Frau war, ich hab sie noch nie gesehen. Sie ist direkt auf unser Haus zu, also bin ich sitzen geblieben und hab gewartet, und beinah hab ich »Hallo« zu ihr gesagt, als sie die Stufen raufkam. Aber dann ist sie nicht auf die Tür zu, sondern vorm Brunnen stehen geblieben. Sie hat sich umgeschaut, den Deckel weggetan und das Kind reingeworfen. Dann ist sie wieder gegangen.«
»Ich glaub, jemand hat einen Sack mit Abfall oder ein totes Eichhörnchen oder so was reingeworfen, um uns zu ärgern«, meinte Virgie.
Ich sah Papa in die Augen. »Es war ein Baby. Ich schwör’s.«
»Du sollst nicht schwören, Tess«, tadelte er mich und schüttelte ein wenig den Kopf. Dann blickte er in die Dunkelheit hinaus. Zwei Glühwürmchen starteten gleichzeitig in die Nacht.
Mama wirkte verwirrt, und die Furchen in ihrer Stirn schienen tiefer als gewöhnlich. »Warum sollte sie’s in unseren Brunnen werfen?«
Virgie funkelte mich empört an. »Jetzt hast du Mama traurig gemacht.«
Albert
Ich glaubte ihr nicht, als sie mir davon erzählte – obwohl ihr Gesicht kalkweiß und ihre Augen so groß wie zwei Silberdollar waren. Sie haben alle Letas Augen – erdfeuchte Augen. Tief wie fruchtbare Erde.
Das Mädchen ist immer eine Träumerin gewesen, aber Geschichten hat sie nie erfunden. Es ging ihr nie darum, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Manche Mädchen in ihrem Alter tun so etwas.
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