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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Und es ergab keinen Sinn, was sie da erzählte. Gütiger Himmel – keine Frau würde ihr Kind in einen Brunnen werfen!
    Aber Tessie ließ nicht locker. Sie lag mir damit immer wieder in den Ohren. Untypisch für Tessie. Sie war sonst ein liebes Kind. Sie wollte gemocht werden und brachte ungern jemanden gegen sich auf. Das heißt allerdings nicht, dass es ihr an Temperament fehlte. Sie war biegsam, aber zerbrechlich war dieses Mädchen nie.
    In jener Nacht, in der sie so aufgewühlt war, hob ich den Deckel des Brunnens an und blickte hinein. Aber sie meinte, ohne Licht könne ich nichts erkennen. Tagsüber, wenn es hell ist, war ich jedoch nie zu Hause. Da arbeitete ich. Also versprach ich ihr, am nächsten Abend mit einer Lampe hineinzuleuchten, damit wir es uns genau ansehen konnten.
    Wenn ich etwas gut konnte, dann war es, mit einem Licht in die Dunkelheit leuchten. Ich kannte die Dunkelheit. Ich war von ihr gezeichnet. Sie klebte für immer in den Falten meiner Ellbogen, in den Linien meiner Hände und unter meinen Fingernägeln. Ich konnte sie hinten in meinem Rachen schmecken, und mitten in der Nacht hustete ich sie aus. Oben im Tageslicht sortierten und säuberten Männer die Kohle, die wir förderten. Sie suchten Schiefersplitter heraus, während sie in der Sonne die Augen zusammenkniffen und sich ihre Haut bräunte. Zu diesen Männern gehörte ich nicht. Ich war nicht viel älter als Tess, als ich anfing, mich um die Maulesel zu kümmern, mich an die Stunden ohne Sonnenlicht zu gewöhnen, tiefer und tiefer hinabzusteigen, meine Stiefel immer neben den Hufen der Tiere. Ich gewöhnte mich an das Gewicht einer Hacke, den Geruch verbrannten Schießpulvers und das Brennen des Staubs in meinen Augen. Alles um mich herum war pechschwarz. Nur die schwachen, trüben Lampen auf unseren Köpfen und an den Wänden durchbrachen ein wenig die Finsternis. Man hätte also annehmen können, dass diese eine Sache, um die mich mein kleines Mädchen gebeten hatte, dieses eine Mal, als Tess fragte, ob ich mit meinem Licht für sie in die Dunkelheit hinableuchten könne, mir so leicht wie ein Atemzug fiele. Es hätte mich auch nur wenig Zeit gekostet. Aber selbst diese Zeit hatte ich für sie nicht. Ich dachte, dass hinter ihrer Geschichte nichts stecken würde und es keinen Grund für mich gab, die wenigen wertvollen Minuten zu vergeuden, die ich in meinem Schaukelstuhl sitzen und den Tag an mir vorbeiziehen lassen konnte.
    Leta merkte am nächsten Tag, bevor ich nach Hause kam, dass ihr Eimer gegen etwas stieß, als sie Wasser heraufholen wollte, um damit Mais zu kochen. Sie zog den Eimer nach oben, und darin lag eine Decke.
     
    Leta
    Ich war mir sicher, dass wir alle krank werden würden. Ich mag noch immer nicht daran denken. Der arme Wurm. Aber im Trinkwasser …
    Ich wollte warten, bis Albert von der Arbeit nach Hause kam. Als ich die Decke mit dem Morgenwasser heraufholte, wusste ich, dass Tess die Wahrheit gesagt hatte und wir das eigentlich hätten wissen müssen. Sie war ein gutes Mädchen. Ich ließ den Eimer nicht noch einmal hinunter, sondern legte die Decke neben den Brunnen. Dann eilte ich in den Laden und kaufte dort unter anderem einen neuen Blecheimer. Ich konnte mir nicht vorstellen, den alten noch einmal zu benutzen, wenn der Abend so verlaufen sollte, wie ich das annahm. Als die Mädchen und Jack aus der Schule kamen, erklärte ich ihnen, dass es zum Mittagessen Maisbrot und Milch geben würde. Ohne Wasser konnte ich nichts anderes kochen, und ich wollte das Wasser, das ich heraufgezogen hatte, auf keinen Fall benutzen.
    »Du hast’s gefunden – nicht wahr, Mama?«, fragte Tess. Ihre Stimme klang heiser, und sie kaute an ihren Zöpfen. Diesmal tadelte ich sie nicht dafür.
    »Ich hab eine Decke gefunden. Wir werden’s klären, wenn Papa nach Hause kommt.«
    »Jetzt glaubst du mir – oder?« Sie schien besorgt zu sein, dass ich immer noch annehmen könnte, sie hätte das Ganze erfunden. Ich kniete mich vor sie hin, nahm ihr den Zopf aus dem Mund und küsste sie auf die Stirn, die bereits von weiß Gott was schmutzig war.
    »Ja, ich glaub dir, Tessie. Und jetzt wasch dich. Es gibt gleich Essen.«
    Zum Nachtisch goss ich frische Milch über Kratzbeeren. Keines der Kinder hatte etwas dagegen.
    Als die letzten Sonnenstrahlen den Himmel erhellten, unsere Rücken vom langen Hinabschauen wehtaten und die Augen vom Blinzeln in der Dunkelheit müde waren, begriffen wir, dass wir eine Art Netz brauchten.

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