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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Nachdem wir schließlich nicht mehr wussten, wie oft wir es schon versucht hatten, zog Albert endlich den großen Blecheimer mit einem winzigen blassen Arm heraus, der über den Rand hing. Das Baby war nackt, und es war ein Junge.
    Meine Mama starb, als ich vier Jahre alt war, und ich erinnere mich noch daran, wie sie dalag auf dem Bett, die Laken voller Blut. Der Schweiß auf ihrem Gesicht war noch nicht getrocknet. Das Baby, das sie zur Welt gebracht hatte, sah ich zwei Tage später. Sein Gesichtchen war blau angelaufen und sein Körper so verschrumpelt wie ein vertrockneter Pfirsich. Ich hatte auch schon Kumpel mit ausgerissenen Augen und Armen gesehen, die nur noch an Hautfetzen von ihnen herabhingen, wie sie aus den Gruben nach Hause getragen wurden. Kein Anblick blieb mir jedoch so deutlich im Gedächtnis wie das Bild dieses kleinen angeschwollenen Etwas, das früher einmal ein Kind gewesen war und dessen Ärmchen jetzt über den Rand unseres Wassereimers baumelte.
     
    Virgie
    Ich dachte zuerst, sie hätte das Ganze nur erfunden, um sich wichtigzumachen. Tess war als kleines Kind unerträglich gewesen. Mama ließ mich oft mit ihr allein. Ich musste auf sie aufpassen, doch sie lief immer wieder davon, so dass ich sie zurückholen musste, wobei sie wie am Spieß brüllte. Der weiße Zaun um unseren Garten wurde extra wegen ihr aufgestellt. Dann lernte sie, wie man das Gatter öffnet. Sie machte sich um nichts Gedanken. Und als Jack geboren wurde, verpetzte sie ihn am Anfang ständig. Aber sie erzählte keine Lügen.
    In jener ersten Nacht konnte sie nicht einschlafen. Doch ich sagte kein Wort. Ich fand ihr Verhalten töricht. Ich lag still da, war wütend auf sie und lauschte dem Schlaf, der aus dem restlichen Haus zu uns herüberwehte: Papas Schnarchen, Mamas ruheloses Hin-und-Her-Wälzen und Jacks Gemurmel, wenn er sich auf die andere Seite drehte. Ich hörte auch das Pfeifen des Zuges und den Wind, der an den Fensterscheiben rüttelte. Aber von Tess kein einziges Geräusch. Sie lag ebenso wach da wie ich, und ich wünschte ihr nicht einmal eine gute Nacht.
    In der nächsten Nacht – in jener Nacht, als das Baby zugedeckt mit der feuchten Decke auf unserem Brunnen gelegen hatte und der Sheriff gekommen war, um es in einem Korb abzuholen – sprach Tess kein Wort mit mir. Ich beobachtete sie eine Weile, wie sie zu einem kleinen S zusammengerollt mit dem Rücken zu mir dalag, ehe ich zu ihr rutschte, obwohl sich die Lockennadeln dabei in meinen Kopf bohrten.
    »Tessie«, flüsterte ich und kitzelte sie am Ohr. Sie zuckte kurz mit einer Schulter.
    »Was?«
    »Alles in Ordnung?«
    Sie gab keine Antwort. Zuerst bohrte ich ihr meinen großen Zeh in die Fußsohle.
    »Hör auf.«
    Als Nächstes stieß ich ihn gegen ihre Wade.
    »Lass das, Virgie«, zischte sie. »Du reißt mir die Haut auf mit deinem Zeh.«
    »Dreh dich um.«
    Sie gehorchte und sah mich schläfrig und gereizt an. Ihre hübschen schwarzen Locken waren über das Kopfkissen gebreitet, fielen ihr aber auch ins Gesicht. Sie strich sie zur Seite. Dann trat sie nach meinem Fuß. »Lass die Füße bei dir drüben.«
    Ich schob meine Hand zu ihr hinüber und berührte ihren Arm.
    »Lass auch die Hand drüben«, flüsterte sie wütend.
    Ich drehte mich auf den Rücken und blickte eine Weile zur Decke hinauf, ehe ich ihre offenen Augen bemerkte. »Tut mir leid, dass ich dir nicht geglaubt hab.«
    »Ich weiß«, erwiderte sie.
    Das war alles.
    Ich wachte einige Stunden später auf, weil sie im Bett um sich schlug, während das Mondlicht durch die Fenster hereinfiel. Sie hatte mir das Bettlaken weggezogen und sich in unsere Oberdecke (die mit den Rotkehlchen) wie in einen Kokon eingewickelt. Immer wieder trat sie mit den Beinen um sich und redete Unsinn. Ich verstand nicht, was sie sagte.
    Leise rief ich ihren Namen. »Tess! Tess, wach auf!« Ich berührte sie an der Schulter und schüttelte sie sanft. »Tess, es ist alles in Ordnung. Wach auf!« Diesmal ein bisschen lauter. Sie murmelte weiter vor sich hin und warf sich hin und her. Ich legte eine Hand auf ihre Stirn, um zu sehen, ob sie Fieber hatte.
    »Psst. Du träumst nur schlecht.«
    Plötzlich rollte sie nach links und fiel – plumps – auf den Boden. Ich robbte hastig auf ihre Seite hinüber und blickte über den Bettrand. Kurz darauf tauchte ihr Kopf auf.
    »Ich bin aus dem Bett gefallen«, erklärte sie. Sie rutschte etwas zur Seite, so dass der Mond ihr Gesicht erhellte und ich die Tränen sehen

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