Das blaue Zimmer
Inhalt
Toby
Ein Tag zu Hause
„Spanish Ladies“
Miss Camerons Weihnachtsfest
Tee mit dem Professor
Amita
Das blaue Zimmer
Gilbert
Das Vorweihnachtsgeschenk
Die weißen Vögel
Der Baum
Das Haus auf dem Hügel
Ein unvergeßlicher Abend
Lalla
Toby
A n einem kalten Frühlingstag kurz vor Ostern trat Jemmy Todd, der Briefträger, in die Küche der Hardings, legte ihnen die Morgenpost auf den Frühstückstisch und teilte ihnen mit, daß ihr Nachbar, Mr. Sawcombe, am frühen Morgen an einem Herzinfarkt gestorben war.
Vier Hardings saßen am Tisch. Toby, acht Jahre alt, aß seine Cornflakes. Als er nun von Mr. Sawcombes Tod hörte, konnte er den Mundvoll Cornflakes, teils durchweicht, teils knusprig, nicht herunterbringen, weil er das Kauen vergessen hatte und sich zudem ein Kloß in seiner Kehle bildete, der ihm das Schlucken unmöglich machte.
Nur gut, daß die übrige Familie sich ebenso erschüttert und sprachlos zeigte. Sein Vater, der fürs Büro angezogen war und gerade aufstehen und zur Arbeit gehen wollte, stellte seine Kaf feetasse hin, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah Jemmy an.
„Bill Sawcombe ist tot? Wann hast du es erfahren?“
„Der Pfarrer hat’s mir gleich erzählt, gerade als ich mit mei ner Runde anfing. Hab ihn getroffen, wie er aus der Kirche kam.“
Toby sah seine Mutter an, deren Augen von Tränen glänz ten. „Ach herrje.“ Er konnte es nicht ertragen, sie weinen zu sehen. Er hatte sie schon einmal weinen sehen, als ihr alter Hund eingeschläfert werden mußte, und da war er tagelang das Gefühl nicht losgeworden, daß seine Welt in Stücke brach.
„Die arme Mrs. Sawcombe. Wie schrecklich für sie.“
„Er hatte vor ein paar Jahren schon mal einen Herzinfarkt, wie ihr wißt“, sagte Jemmy.
„Aber er hat es überstanden. Und es ging ihm so gut; er hatte Freude an seinem Garten und genoß es, Zeit für sich zu haben, nachdem er all die Jahre auf dem Hof geschuftet hatte.“
Vicky, neunzehn Jahre alt, fand die Sprache wieder. „Ich halt’s nicht aus. Ich glaub, ich halt’s einfach nicht aus.“
Vicky war über die Ostertage nach Hause gekommen. Sie arbeitete in London, wo sie sich mit zwei anderen Mädchen eine Wohnung teilte. In den Ferien zog Vicky sich zum Früh stück nie an, sie kam im Bademantel herunter, aus weißem Frottierstoff mit blauen Streifen. Die Streifen waren von dem selben Blau wie Vickys Augen; sie hatte lange helle Haare, und manchmal sah sie sehr hübsch aus und manchmal sehr häß lich. Jetzt sah sie häßlich aus. Kummer machte sie häßlich; dann zogen sich ihre Mundwinkel nach unten, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, was die spitzen Konturen ihres schmalen, knochigen Gesichts noch betonte. Der Vater sagte immer zu Vicky, sie sei viel zu dünn, aber da sie aß wie ein Scheunendrescher, konnte ihr niemand etwas vorwerfen, höchstens Gefräßigkeit.
„Er war so nett. Er wird uns fehlen.“ Die Mutter sah Toby an, der immer noch mit vollem Mund dasaß. Sie wußte – alle wußten –, daß Mr. Sawcombe Tobys bester Freund gewesen war. Sie beugte sich über den Tisch und legte ihre Hand auf die seine. „Wir werden ihn alle vermissen, Toby.“
Toby antwortete nicht. Aber als er Mutters Hand auf seiner spürte, schaffte er es, die Cornflakes vollends herunterzu schlucken. Seine Mutter räumte voller Verständnis die halb leere Schale fort, die vor ihm auf dem Tisch stand.
„Nur gut“, sagte Jemmy, „daß Tom den Hof übernimmt. So steht Mrs. Sawcombe jetzt wenigstens nicht allein da.“
Tom war Mr. Sawcombes Enkel, dreiundzwanzig Jahre alt. Toby und Vicky hatten ihn ihr Leben lang gekannt. Früher, als sie viel jünger waren, waren Vicky und Tom zusammen auf Feste gegangen, auf Bälle des Reitervereins und im Sommer ins Ghymkhana-Zeltlager. Aber dann besuchte Tom die Landwirtschaftsschule, und Vicky ließ sich zur Sekretärin aus bilden und ging nach London, und jetzt hatten sie sich an scheinend nicht mehr viel zu sagen.
Toby fand das schade. Vicky lernte eine Menge neue Freunde kennen, die sie manchmal mit nach Hause brachte. Aber keinen fand Toby so nett wie Tom Sawcombe. Einmal war einer, Philip hieß er, gekommen, um mit den Hardings Silvester zu feiern. Er war sehr groß und blond und fuhr einen Wagen, der wie ein glänzender schwarzer Torpedo aussah, doch irgendwie fügte Philip sich
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