Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
anderen Traum gewesen war. Eine echte Klarträumerin, in seinem Revier! Beinahe hätte er dem überwältigenden Impuls nachgegeben, ihr nachzusetzen, das Fenster wieder aufzureißen und ihr zu folgen. Doch er wusste, selbst wenn er es versuchte, sie würde fort sein. Er würde auf die nächste Nacht warten müssen.
Nur sehr widerwillig kehrte Seth an seinen Platz auf dem Nachtglas zurück, um seine Wanderung fortzusetzen. Der Morgen war bereits angebrochen, und es gab kaum noch Träumer, auf die er achtgeben musste, damit sie sich nicht in ihren Träumen verliefen und nicht mehr aufwachen konnten. Diese lästige Wacht war fast vorbei. Aber immerhin war sie heute nicht annähernd so langweilig gewesen wie sonst.
Ein letztes Mal sah er zurück zu der Stelle, wo eine winzige Insel aus Sand langsam von Sternenschnee bedeckt wurde. Wo ein Menschenmädchen ihren Traum mit seinem vermischt hatte. Noch immer glaubte er, den salzigen Wind in seinem Haar zu spüren. Ein breites Lächeln verzog Seths Lippen. Er würde so viel Spaß mit ihr haben.
»Bis bald, Sternenkind«, sagte er zu der Sandinsel, ehe sie völlig untergehen konnte. »Bis bald.«
Es war noch dunkel, als Nele die neue Treppe in die neue Küche hinunterstieg– auf dem Weg in die neue Schule, zum ersten Mal. Im Hausflur stieß sie sich das Knie am Schuhschrank unter der Garderobe und fluchte leise. Es würde wohl noch ein bisschen dauern, bis sie auch mit noch schlafblinden Augen unbeschadet den Weg zum Frühstückstisch fand.
Im Stockwerk über ihr war noch alles still. Paps schlief, er hatte Urlaub und würde erst morgen zurück nach Prag fliegen, wo er als Kameramann daran beteiligt war, einen Agententhriller zu filmen. Mommi hingegen war längst in der Küche, auch wenn von ihr wie üblich kaum mehr zu sehen war als die fingerdicke Zuckerschicht am Boden ihrer Kaffeetasse, in der noch senkrecht der Löffel stand. Gerade schob sie sich mit der linken Hand die zu einem Ball gedrückten Innereien eines Aufbackbrötchens in den Mund, während sie mit der rechten vor der spiegelnden Fensterscheibe ihren Lidstrich zog.
»Morgen, Moms.« Nele gähnte und schlurfte zum Kühlschrank. Blinzelnd starrte sie in das grelle Licht hinter der dicken Tür, während sie versuchte, herauszufinden, ob ihrem Magen eher nach einem Joghurt oder einem Salamibrötchen war.
»Morgen, Leni!« Mommi drehte sich um, lächelte ihr strahlendes Lächeln und warf den Eyeliner in die Handtasche auf dem Küchentisch. »Ich hab’s nicht geschafft, dir ein Brot zu machen, sorry! Ich bin schon wieder spät dran. Und das am ersten Tag, nicht zu fassen!« Sie warf sich die Tasche über die Schulter und klemmte ihre Aktenmappe unter den Arm, ehe sie Nele ein kussechtes Lippenstiftbussi auf die Wange und einen Zwanzig-Euro-Schein in die Hand drückte. »Kauf dir was Schönes, ja? Und keine Schokoriegel!«
Keine Schokoriegel. Nele seufzte liebevoll und grinste, so gut sie es so kurz nach dem Aufstehen fertigbrachte. Neuer Tag, neues Haus, neue Schule, neue Arbeit. Aber manche Dinge änderten sich eben doch nicht so leicht. Mommi war genauso spät dran wie jeden Morgen, und sie hatte es noch immer nicht aufgegeben, sich zumindest versuchsweise in Neles Ernährungserziehung einzubringen. Und das, obwohl Nele schon seit Jahren diejenige war, die in acht von zehn Fällen dafür sorgte, dass ihre Familie sich nicht nur von Döner und Tiefkühlpizza ernährte. Mommi war eine tolle Frau, und Nele bewunderte sie für vieles. Aber ihre Kochkünste gehörten definitiv nicht dazu.
»Bis heute Abend, Moms.« Sie gab ihrer Mutter ebenfalls einen Kuss und zupfte ihr einen Fussel von der Schulter. »Versuch, pünktlich zu sein, okay? Ich wollte Spinat machen.«
Mommi lachte und sah nur ein ganz klein wenig betreten dabei aus. Für ein wirklich schlechtes Gewissen waren sie und Nele ein zu eingespieltes Team. »Ich gebe mein Bestes, Chefin. Also, bis später, meine Süße! Viel Erfolg bei deinem ersten Tag!«
»Dir auch!«, rief Nele ihr noch nach– da war ihre Mutter schon auf klackernden Absätzen aus der Tür. Kurz darauf ertönte draußen das Geräusch eines startenden Automotors. Dann war alles wieder still.
Gedankenverloren stand Nele noch eine Weile vor dem offenen Kühlschrank, bis es ihr schließlich trotz des Wollpullovers zu kalt dafür wurde. Kurz entschlossen griff sie nach Butter, Käse und Salami und machte sich daran, sich selbst ein Schulbrot zu schmieren. Dann durchforstete sie die
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