Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
Augenpaare starrten Nele an. Skeptisch natürlich. Manche auch ablehnend, in jedem Fall alle neugierig. Nele wusste, was sie sahen. Sie wusste, dass ihre blauen Haare knallig leuchteten, und die grünen und pinken Strähnen sowieso. Die waren ja extra noch mal frisch gefärbt. Sie wusste auch, dass geringelte Strumpfhosen unter Jeansshorts nicht jedermanns Sache waren, und auch rote Krawatten über Schlabberpullis mit ausgeschnittenem Kragen nicht. Aber für Nele waren diese Klamotten schon seit Langem wie eine Rüstung: ihre ganz eigene Art von »Angriff ist die beste Verteidigung«. Eine ausgefeilte Möglichkeit, alles, was sie von ihrer Persönlichkeit zu geben bereit war, nach außen zu tragen, sodass so schnell niemand auf den Gedanken kommen würde, nach den Dingen zu stöbern, die sie nur ihren engsten Freunden anvertrauen wollte.
Denn von solchen Dingen gab es schon ein paar. Und engste Freunde– die hatte Nele hier noch nicht.
Frau Klein wandte sich inzwischen wieder dem Kurs zu. »So, ihr habt es sicher schon erraten: Das ist Nele Martens aus München«, sagte sie gerade– da machte Nele in einer Ecke des Raums eine Entdeckung.
Dort, am Fenster in der letzten Reihe, zwei Plätze entfernt von dem nächsten Schüler, saß der Junge aus dem Hinterhof.
Er starrte angestrengt aus dem Fenster, als wolle er demonstrieren, dass das alles nichts mit ihm zu tun hatte, und Nele schon gar nicht. Er hatte das Kinn in die Hand gestützt, sodass seine Finger die Schramme auf seiner Wange verdeckten. Aber Nele wusste, sie war da. Sie hatte sich das nicht eingebildet. Ihr Herz schlug ein wenig schneller.
»Nele wird von jetzt an unseren bescheidenen Unterricht mit ihrer hoffentlich eifrigen Mitarbeit bereichern«, fuhr Frau Klein inzwischen mit einem Augenzwinkern fort und legte Nele leicht eine Hand auf den Rücken. »Also, ich würde vorschlagen, du suchst dir einen Platz und steigst ganz locker mit ein, okay?«
Nele nickte schnell. Die neugierigen Blicke waren ihr jetzt egal. Sie wusste genau, wo sie sitzen wollte. Schnurstracks machte sie sich auf den Weg in die letzte Reihe und setzte sich direkt neben den Jungen, der sie daraufhin nicht mehr länger ignorieren konnte. Unter skeptisch gesenkten Brauen sah er Nele an.
»Hi«, sagte sie so freundlich sie konnte und streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Nele, aber das weißt du ja schon.«
Für einen Moment sah der Junge verwirrt aus. Sein Blick flog rasch hin und her, und auch Nele war klar, dass sie nun alle im Raum beobachteten. Sollten sie doch. Sie war fest entschlossen, diesen Jungen nicht davonkommen zu lassen, ehe sie sich dafür entschuldigt hatte, ihn vorhin so angerüffelt zu haben. Schließlich war es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht er gewesen, der den Fernseher geworfen hatte– es sei denn, er konnte wirklich, wirklich schnell rennen.
Endlich erschien ein winziges, zögerndes Lächeln auf seinem Gesicht. »Jari«, sagte er. Seine Finger waren warm und trocken und schlossen sich mit festem Druck um Neles, ehe er sie eine Spur zu schnell wieder zurückzog und sich abwandte.
Er hatte ein hübsches Lächeln, dachte Nele und fragte sich im gleichen Moment, warum sie das eigentlich so wunderte. Es war ein freundliches, sanftes Lächeln, das sich in seinen Augen spiegelte und ihn plötzlich gar nicht mehr so verschlossen wirken ließ. Nele hätte es gern noch einmal aus ihm herausgekitzelt, um es sich in Ruhe anzusehen. Doch in diesem Augenblick räusperte sich vorn an der Tafel Frau Klein, und Nele wurde klar, ihr Welpenschutz war in genau dieser Sekunde vorbei. Frau Klein, so viel war sicher, hatte einen Plan für diese Stunde. Und den beabsichtigte sie durchzuziehen, ob nun eine neue Schülerin im Kurs war oder nicht.
»Tut mir leid wegen vorhin«, flüsterte Nele Jari schnell noch zu. Aber er antwortete nicht mehr. Und als es zur Pause klingelte, sprang er auf, wie von einer Tarantel gestochen, und verließ den Klassenraum, ehe Nele auch nur versuchen konnte, ihn noch einmal anzusprechen.
Sie traf ihn erst wieder, als der Schultag bereits vorüber war. Wie das möglich war, blieb Nele ein Rätsel, denn so furchtbar groß war die Schule gar nicht. Dass sie den Rest des Tages offenbar keine gemeinsamen Kurse hatten, war eine Sache. Doch auch in den Pausen sah sie ihn nirgendwo.
Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie inzwischen an einer handfesten Reizüberflutung litt. Sechs Kurse in sechs verschiedenen Unterrichtsräumen mit stetig
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