Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
stellte, drang eine schwache Stimme an seine Ohren.
»Jari?«
Unwillkürlich zuckte Jari zusammen. Entgegen aller Hoffnungen schlief seine Mutter offenbar doch nicht. Er hätte es sich denken müssen. Vermutlich lauschte sie schon seit einer ganzen Weile mit wachsam gespitzten Ohren darauf, dass er nach Hause kam. Und er konnte unmöglich so tun, als hätte er sie nicht gehört.
Jari schaltete die Mikrowelle ein und ging ins Wohnzimmer hinüber. Seine Bewegungen fühlten sich seltsam zäh an, als müsste er seine Glieder statt durch Luft durch dicken Sirup bewegen.
Seine Mutter lag unter einem Haufen Decken vergraben auf dem alten Cordsofa in der dunkelsten Ecke des Raumes. Sie hatte kein Licht angeschaltet. Licht bei Tag war Stromverschwendung, und die Nebenkosten waren ohnehin viel zu hoch. Aber manchmal hatte Jari den Eindruck, dass das gar nicht der wahre Grund dafür war, warum seine Mutter so viele Stunden im trüben Dämmergrau verbrachte. In letzter Zeit hatte er immer öfter das Gefühl, dass sie sich vor zu viel Licht regelrecht fürchtete.
»Du bist wieder da!« Sie hatte schon wieder kaum Stimme übrig vom vielen Schreien– und der Rest war im Inhalt der halb leeren Flasche Korn ertrunken, die in Reichweite neben ihr auf dem wackeligen Beistelltisch stand. Trotzdem hörte Jari deutlich die Erleichterung, die in den dünnen Tönen zitterte. Ein blasses Lächeln verzerrte ihre aufgesprungenen Lippen, als sie ihm unter den Decken hervor eine Hand entgegenstreckte. Jari verabscheute es, wenn sie sich betrank. Dabei konnte er sich kaum noch an die Zeit erinnern, als seine Mutter kräftig und fröhlich gewesen war und nicht mindestens einen halben Liter Hochprozentiges brauchte, um den Tag zu überstehen. Am liebsten wäre er direkt wieder gegangen. Aber er brachte es einfach nicht übers Herz, ihr so wehzutun. Also setzte er sich einen Moment lang zu ihr und nahm ihre kühlen Finger in seine.
»Hallo, Mama.«
»Warum bist du so spät?« Ihr Blick, der unstet über sein Gesicht huschte, war ängstlich. Jari wusste, sie fürchtete immer, er könnte eines Tages einfach nicht wiederkommen. Und ganz unrecht, das musste er zugeben, hatte sie damit nicht. Aber das sprach er natürlich nicht aus.
»Tut mir leid. Ich habe noch mit einer Mitschülerin gesprochen. Nele. Sie ist neu in meiner Stufe.«
Augenblicklich trat ein alarmiertes Glitzern in die Augen seiner Mutter. »Ein Mädchen?« Sie richtete sich schwerfällig auf. Ihre Augen waren von zu viel Alkohol verhangen und gerötet. Doch nicht einmal der Schnaps hatte ihren ewig schwärenden Kummer beruhigen können.
Jari unterdrückte einen leisen Seufzer. Er wusste, welcher Vortrag nun kommen würde. Aber er sagte nichts.
»Hör auf damit«, bat seine Mutter. Ihre Finger zitterten in seinen. »Sprich nicht mehr mit ihr. Du weißt, Vater hat das nicht gern.«
Nun bahnte sich das Seufzen doch seinen Weg über Jaris Lippen, ohne dass er etwas dagegen hätte tun können. Vater. Ja, natürlich wusste er das. Sehr gut sogar. Jari konnte nicht genau sagen, woran es lag, aber über die letzten Jahre hatte sich sein Vater zu einem immer fanatischeren Kontrollfreak entwickelt. Sicher, er hatte schon immer gern die Zügel in der Hand gehabt und in allen Angelegenheiten das letzte Wort gesprochen. Aber je älter Jari wurde, desto mehr hatte er das Gefühl, dass sein Vater ihn um jeden Preis unter seiner absoluten Kontrolle halten wollte. Vielleicht hing es mit diesem miesen Job in der Elektrofirma zusammen, den er vor drei Jahren hatte annehmen müssen, nachdem seine vorherige Stelle wegrationalisiert worden war. Oder damit, dass seine Frau sich Tag für Tag weiter in die Alkoholsucht flüchtete und inzwischen kaum noch mehr als ein Geist war. Es war gut möglich, dass er deswegen glaubte, beweisen zu müssen, dass er seine Familie und vor allem seinen pubertierenden Sohn noch voll im Griff hatte. Und selbstverständlich war er dagegen, dass Jari sich Freunde suchte, die ihm rebellische Flausen in den Kopf setzen konnten– wo er ihn doch ohnehin schon für unerträglich aufmüpfig hielt. Gerade in letzter Zeit hatte dieser Kampf Ausmaße angenommen, die Jari weder begreifen konnte noch wusste, wie er ihnen begegnen sollte. Und trotzdem, oder gerade deswegen, dachte er gar nicht daran, solche hirnrissigen Verbote einfach hinzunehmen.
In diesem Augenblick piepte drüben in der Küche die Mikrowelle. Erleichtert ließ Jari die Hand seiner Mutter los und stand
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