Wenn du lügst
überfällt oder, wenn ihn die Stimmung überkommt, vergewaltigt. Er war nicht wegen des sexuellen
Übergriffs ins Gefängnis gekommen. Das war erst passiert, nachdem er bereits wegen bewaffneten Raubüberfalls einsaß. Es war schwer vorherzusagen, was er als Nächstes tun würde. Vermutlich wusste er es selbst nicht.
Ich zog die Geschichte von der »Schlampenjagd« nicht in Zweifel, aber er war damals nicht erwischt worden, und ich konnte es nicht beweisen. Darüber hinaus gab es bei ihm keine früheren Anklagen oder Verurteilungen wegen einer Sexualstraftat. Was bedeutete, dass er auf dem RRASOR, dem einfachsten Instrument für Risikoeinschätzungen, gar nicht so schlecht abschnitt. Das RRASOR wertet lediglich vier Faktoren aus, und die Hälfte der Punkte ergibt sich aus früheren Anklagen und Verurteilungen aufgrund von Sexualdelikten. Hinsichtlich der anderen drei Faktoren bekam er einen Punkt dafür, keine Beziehung zu seinen Opfern gehabt zu haben, aber das war es dann auch schon. Er erzielte keine Punkte für jugendliches Alter - er war über fünfundzwanzig - und auch keine für männliche Opfer - sein einziges aktenkundiges Vergewaltigungsopfer war weiblich. Straftäter mit männlichen Opfern werden öfter rückfällig - weiß der Himmel, warum. Von den möglichen sechs Punkten erzielte er nur einen einzigen. Männer mit einer eins auf dem RRASOR haben eine durchschnittliche Rückfallquote von elf Prozent auf zehn Jahre gerechnet.
Das war jedoch nicht das Ende. Ich hatte noch andere Instrumente zu berücksichtigen. Ich schaltete das Static99 ein, den derzeitigen Favoriten in der Welt der Risikoeinschätzung von Sexualstraftätern. Das Static99 bezieht neben den RRASOR-Faktoren noch ein paar andere
mit ein. Das Hinzufügen der neuen Faktoren erbrachte keine Veränderung seiner Gefährlichkeitsprognose. Seine Punktzahl lag bei vier, und sechs war die Untergrenze für hohes Risiko. Mit einer vier zählte er zu der Gruppe, deren Rückfallrisiko für ein weiteres Sexualdelikt bei sechsunddreißig Prozent in fünfzehn Jahren lag, womit er die gesetzlichen Kriterien für eine hohe Wahrscheinlichkeit nicht erfüllte. Somit erfüllte er auch nicht die gesetzlichen Kriterien für eine Sicherungsverwahrung.
Es gab noch zwei weitere Instrumente, die ich hinzuziehen konnte. Sein Ergebnis auf dem Minnesota-Instrument, dem MnSOST-R, unterschied sich nicht von den anderen: Auch hier wurde kein hohes Rückfallrisiko ermittelt. Abschließend überprüfte ich ihn auf Psychopathie. Er erzielte weit über dreißig Punkte, was bedeutete, dass er ein Psychopath war, einer dieser seltsamen Menschen ohne Gewissen. Allerdings war das bereits durch die Befragung und seinen Lebenslauf klar ersichtlich gewesen. Nichts von alldem besagte, dass er nicht gefährlich wäre. Es besagte lediglich, dass nicht bewiesen werden konnte, dass er eine weitere sexuelle Straftat begehen würde.
Ich sah mir die Ergebnisse noch ein letztes Mal an, dann stand ich auf und trug meinen Kaffee nach oben auf den kleinen Balkon vor meinem Schlafzimmer. Ich zog den Schaukelstuhl nach draußen, setzte mich hinein und schloss die Augen, um nachzudenken. Es hatte während der Nacht geregnet, und jedes Raunen der Morgenbrise ließ das Wasser auf den Blättern nach unten strömen. Ein dünner Zweig klopfte unablässig auf das
Geländer und zeigte mit jedem Klopfen die Zeit des Waldes an. Bäume tragen keine Armbanduhren: sie klopfen und rascheln und erzittern und biegen sich und flattern manchmal. Sie markieren die Zeit, indem sie ständig den Rhythmus wechseln, anstatt sie in identische Bruchstücke zu zersplittern, wie es die Menschen tun. Meine Arbeit verrichte ich unten, mein Nachdenken jedoch hier oben, wo kein Glas ist zwischen mir, dem gedeckten, silbrigen Olivgrün der Zedern und dem Rascheln der Bäume, die mit der Brise den Texas Tow-Step tanzen.
Vielleicht waren die Ergebnisse richtig, überlegte ich. Tatsächlich war Collins ein Psychopath und ein Gangster. Er war ein gewalttätiger Krimineller. Er war nicht auf Sexualdelikte spezialisiert. Ehrlich gesagt war es wahrscheinlicher, dass man ihn wegen eines Banküberfalls als wegen einer Vergewaltigung verhaften würde, und genau das wurde über diese Tests ermittelt - wer wofür erwischt werden würde. Die Wahrheit sah so aus, dass er die gesetzlichen Kriterien nicht erfüllte. Gefährlich oder nicht, man würde ihn freilassen müssen. Vermutlich würde das auch geschehen. Trotzdem hatte der
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