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Wenn Du Luegst

Titel: Wenn Du Luegst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Salter
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nicht zurückgekommen wäre, vielleicht wäre es dann nicht passiert. Wie in einer Endlosschleife wiederholte ihr Geist unaufhörlich die Szene, als Lilys Kopf gegen die Wand gekracht war. Es war ohne Lily so viel leichter gewesen. Mit ihrem Fortgehen hatte er ein mächtiges Druckmittel verloren. Das war ihnen beiden bewusst gewesen. Aber jetzt war Lily zurück, und er schlug sie ebenfalls.
    Lily war der letzte Schritt durch die Tür gewesen. Auf keinen Fall waren es die Misshandlungen. Die waren wie immer. Nicht wie in jener Nacht, als Lily weggegangen war. Schon seit einer ganzen Weile war nichts Vergleichbares mehr passiert - keine brennenden Zigaretten auf ihrer Haut, keine Plastiktüten über ihrem Kopf. Sie hatte erwartet, dass sie am Ende dieser Reise wieder nach Hause zurückkehren und die Dinge ihren gewohnten
Lauf nehmen würden. Sie würde morgens aufstehen und zur Arbeit fahren, so wie sie es immer tat. Jerry würde sie erwarten, wenn sie heimkam, so wie er es immer tat.
    Irgendwann während der Nacht war sie aufgewacht, und alles war in sich zusammengebrochen. Sie hatte den roten Faden verloren, das Drehbuch. Dann wurde ihr klar, dass sie eigentlich gar nicht aufgewacht war. Sie hatte lediglich bemerkt, dass sie nicht schlief.
    Jena stand auf. Alles wirkte zusammenhangslos. Sie wusste nicht, warum sie da stand. Sie hatte keine Pläne oder Ideen und auch kein Ziel, und sie fragte sich, was sie wohl als Nächstes tun würde. Sie verharrte für einen Moment und sah sich um. Alles wirkte jetzt verändert, irgendwie klarer und schärfer. Die Kante eines Schreibtischs zeichnete sich deutlich in dem Mondlicht ab, das durch eine Lücke im Vorgang hereinfiel. Alles war still. Jerry lag sorglos ausgestreckt auf der Seite, und ihr kam die Zeile eines Gedichts in den Sinn: ›Du warst so nahe, fast hätte ich die tote Kindheit in deinem Gesicht berühren können.‹ Aber das war es nicht, was anders war. Sie empfand oft so, wenn er schlief.
    Was sich verändert hatte, war, dass sie keine Angst mehr verspürte. Dieses zermalmende Monstrum in ihr war verschwunden. Ihr Brustkorb fühlte sich an, als hätte sich die enge Fessel gelockert, die ihn zuvor zusammengeschnürt hatte. Sie holte tief Luft, und das zum ersten Mal seit … wann? Sie konnte sich nicht entsinnen, aber es war eine Ewigkeit her. Es war schlichtweg nicht mehr von Bedeutung. Mehr noch, sie konnte sich nicht entsinnen, wie es sich angefühlt hatte, als es noch von
Bedeutung gewesen war. Sie fühlte sich wie ein Geist, so als existiere sie gar nicht. Sie nahm sich selbst nicht mehr wahr, hatte keinen echten Glauben mehr daran, dass sie real oder ihr Körper es war. Sie fühlte sich leicht und substanzlos. Sie war aus Luft gemacht oder aus etwas noch Leichterem.
    Sie schloss die Augen und sah sich selbst über der Erde schweben, einfach über der Erde dahintreiben wie ein Ballon bei einer Thanksgiving-Parade, der noch von einer dünnen Schnur gehalten wurde, einer Verbindungslinie, welche direkt zu der kleinen Gestalt führte, die sie umklammerte und nach oben sah. Lily war das Einzige, das sie zurückholen konnte, zurück zu dem zermalmenden Monstrum der Angst.
    Das Mondlicht, das durch die Vorhänge schlüpfte, zog sie magisch an, und sie ging zur Tür und öffnete sie. Sie sah ihn noch nicht einmal an, um festzustellen, ob ihn das Geräusch geweckt hatte. Als spielte das eine Rolle. Die Lichter des Parkplatzes sahen aus wie gigantische Glühwürmchen, die über einem schwarzen Teich in der Luft schweben. Sie wackelte auf dem nassen Pflaster mit den Zehen und staunte darüber, wie deutlich sie alles sehen konnte. Autos und Lichter und, hinter dem Parkplatz, eine Baumreihe - alles schien von einer unwirklichen Klarheit durchtränkt. Sie sah Wasser, das von Blättern tropfte, eine kleine Beule in einem Lichtmast, und sie wunderte sich, wie sie diese Dinge sehen konnte, obwohl sie so weit weg waren. Sie erinnerte sich nicht, irgendwelche Drogen genommen zu haben.
    Es war sehr ruhig. Sie konnte in großer Entfernung ein Auto vorbeifahren hören, sein Motor wie das ferne
Summen einer einsamen Biene, die ihre Runden in der Nacht dreht. Jena setzte sich auf den Bordstein und spürte, wie die Feuchtigkeit des Regens durch ihr Nachthemd drang. Es musste kalt sein, denn auf den Armen hatte sie eine Gänsehaut, aber sie spürte nichts.
    Sie konnte ihr Herz überlaut in der Stille schlagen hören. Sie dachte daran zu tanzen. Sie bräuchte nur einen Schal, so wie

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