Wenn Du Luegst
Er sagte es barsch, ohne Entschuldigung. Die Stimme hatte die Farbe von Kupfer, in das sich ein tiefdunkler Ton mischte. Die Textur war seltsam, irgendwie kreppartig, fast wie Seersucker, dabei aber bauschiger. Die Stimme sah beinahe aufgedunsen aus und ließ mich an Wasserleichen denken,
an tote Körper, die zu lange der Feuchtigkeit ausgesetzt waren. Für meine Ohren klang die Stimme neutral, sogar gleichgültig. Aber so sah sie nicht aus.
Ich zog die Brauen hoch und bemühte mich, überrascht zu wirken. »Ich habe eine Anzeige gesehen«, erklärte ich. »Im Internet. Um alte Schulfreunde ausfindig zu machen. Ich hatte einen Gratisversuch, und da fiel mir Jena ein. Ich habe schon seit Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen. Ich bekam die Adresse und wollte sie während meines Zwischenstopps in Chicago überraschen.« Es verblüffte mich immer wieder, wie gut ich log.
Er bedachte mich mit einem verspäteten Lächeln, das pure Herzlichkeit verströmte. Es schien, als verändere sich seine ganze Persönlichkeit, nachdem er entschieden hatte, dass mein Besuch kein Grund zur Sorge bot.
»Bitte entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich bin Jerry Rowland, ihr Ehemann. Ich bin Schriftsteller, und wenn ich arbeite, fällt es mir schwer umzuschalten. Es dauert immer einen Moment, bis ich meinen Kopf aus der Geschichte befreit habe. Es tut mir leid, aber Jena ist geschäftlich verreist.«
»Oh nein«, erwiderte ich. »So ein Pech. Was macht sie denn beruflich?«
»Unternehmensberatung. Sie arbeitet mit verschiedenen Firmen zusammen.«
»Wirklich? Was ist ihr Spezialgebiet?«
»Organisationsentwicklung.« Er sagte es leichthin, wenngleich die Textur seiner Stimme rauer geworden war, doch das brauchte ich gar nicht, um zu wissen, dass er log. Er machte keine Anstalten, mich ins Haus zu bitten.
»Könnte ich ihre Handynummer haben?«, fragte ich. »Ich muss heute abreisen und würde sie gern irgendwann mal anrufen.«
»Sie hat keins. Sie hatte mal eins, aber es hat sie wahnsinnig gemacht. Sie hat es schließlich nicht mehr mitgenommen, weil sie meinte, dass sie gar nichts mehr erledigt bekommt. Tja, Sie kennen ja Jena. Sie hat nicht viel Sinn für Technik. Hören Sie, ich will Sie nicht entmutigen, aber Jena hat das Thema Clark ziemlich abgehakt. Sie hatte nie das Gefühl, dort angenommen zu werden. Ich weiß nicht …« Er ließ den Satz unvollendet.
»Ach so«, sagte ich. »Ich verstehe.«
»Sie wollte anrufen, sobald sie im Hotel angekommen ist. Ich kann ihr sagen, dass Sie vorbeigeschaut haben. Sie wird sich bei Ihnen melden, falls … na ja, Sie wissen schon.«
»Natürlich. Ich verstehe. Kann ich meine Nummer hinterlassen?«, fragte ich, obwohl ich wusste, dass es ohne Bedeutung war. So etwas würde ich sagen, wenn ich ihm glauben würde, und er sollte denken, dass das der Fall war.
»Einen Moment«, sagte er und machte mir die Tür vor der Nase zu. Er kam mit einem Notizblock zurück und schrieb pflichtschuldig meine Handynummer auf - so als würde er sie länger als eine Nanosekunde behalten, nachdem ich weg war. Er lächelte noch einmal dieses Lächeln, und das Einzige, woran ich denken konnte, war dieser Oldie von Rod Stewart, in dem es heißt: »Wenn ich dir nur lange genug zuhören würde, fände ich einen Weg, zu glauben, dass das alles wahr ist.«
kapitel 6
Ich habe keinen Weg gefunden, zu glauben, dachte ich, als ich wegfuhr, oder vielleicht habe ich einfach nicht lange genug zugehört. Ich hätte gewettet, dass Jena irgendwo in Chicago bei der Arbeit war. Die Frage war nur, wo? Südstaatler sind halsstarrig; das kann eine Unart oder eine Tugend sein, je nachdem, was man vorhat. Heute hielt ich es für eine Tugend.
Um Jena aufzuspüren, musste ich mir wieder Zugang zum Internet verschaffen, und das nahm ein bisschen Zeit in Anspruch. Tatsächlich mehr als ein bisschen. Ich verbrachte eine geschlagene Stunde mit der vergeblichen Suche nach einer Telefonzelle, in der es ein waschechtes Telefonbuch gab. Schließlich gab ich auf und begann stattdessen, Tankwarte und Verkäufer zu fragen, wo ich ein Internetcafé finden könnte. Auch das brachte mich nicht weiter, und ich hatte gerade beschlossen, nur des Kommunikationscenters wegen in ein Hotel einzuchecken, als ich an einem Computergeschäft vorbeikam. Der Typ hinter der Ladentheke kannte ein Internetcafé, und eineinhalb Stunden, nachdem ich mit meiner Suche begonnen hatte, saß ich dann dort, trank guten äthiopischen Kaffee und fahndete wieder nach
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