Wenn Du Luegst
Schritt traten wir etwas davon los. Wir hatten keinen Flaschensauerstoff, und ich konnte nicht mehr denken. Immer wieder rief ich Jena zu, wir sollten umkehren, aber der Wind verschluckte meine Worte.
Ich schlief unruhig und wachte häufig auf. Jedes Mal beim Wiedereinschlafen glitt ich erbarmungslos mit Jena zurück in die Todeszone. Schließlich hatte ich genug und stand auf. Der Traum setzte mir zu, deshalb schlüpfte ich in ein Paar Jeans und ging nach draußen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Es nieselte ein wenig - der Regen so leicht und flüchtig wie die Berührung von Fingerspitzen. Ich hob mein Gesicht nach oben, konnte die weichen Tropfen aber kaum spüren.
Eigenartig, dass ich so lebhaft von einem Ort träumen konnte, in dessen Nähe ich noch nicht einmal gelangt war. Das ist es, woran ich mich bei meinen Gesprächen mit Jena am besten erinnere: Sie konnte endlos über die Berge reden. Sie erzählte Geschichten von all den großen Expeditionen und ließ sie lebendig werden. So vollführte ich mit Hillary diese letzten entkräfteten Schritte zum Gipfel des Everest, begleitete Bonington bei seinem Aufstieg über die Südflanke des Annapurna und war zusammen mit Schoening auf dem K2, als fünf der Männer an seinem Seil abstürzten und er allein sie hielt. Beim Sprechen lehnte Jena sich immer nach vorn, ihre Hände flogen, und ein fernes Leuchten trat in ihre Augen.
Sobald der Morgen anbrach, stieg ich in meinen Mietwagen,
um es mit dem Straßenlabyrinth Chicagos aufzunehmen. Als ich Jenas Haus schließlich fand, starrte ich es verblüfft an. Ich hätte mir Jena in einem Loft oder in einem Holzhäuschen oder fast in jeder anderen unkonventionellen Bleibe vorstellen können. Dieses fade Vorstadthaus passte hingegen gar nicht zu ihr.
Langsam stieg ich aus dem Auto und ging die Einfahrt hoch. Jetzt, wo ich hier war, wünschte ich mir insgeheim, es nicht zu sein. Ich hatte das Gefühl, mich einem Hornissennest zu nähern, und ein Teil von mir wollte lieber nicht hineinstochern. Das Haus war ruhig, und nichts wirkte ungewöhnlich. Trotzdem schwitzten meine Handflächen, und über allem lag ein bernsteinfarbener Nebel. Manchmal kamen mir meine Gefühle bei dem, was ich sah, in die Quere, und heute war einer dieser Tage. Ich war nervös, und das brachte immer eine farbliche Überlagerung mit sich.
Ich klopfte an die Tür, dann wartete ich, während mir durch den Kopf ging, dass das alles vermutlich umsonst war. Sehr wahrscheinlich arbeiteten sie beide. Stille war die Antwort auf mein Klopfen, deshalb hob ich die Hand, um es noch einmal zu versuchen, als dann so plötzlich die Tür aufgerissen wurde, dass ich einen Schritt zurücktaumelte. Der Mann, der vor mir stand, war blond und trug ein taubenblaues Hemd, das zu seinen Augen passte. Er war nicht besonders groß, vielleicht ein Meter fünfundsiebzig. Er wirkte so flink und kräftig wie ein Athlet, aber ohne die ausgeprägten Schultermuskeln. Bei seiner Größe war ich auf Augenhöhe mit ihm. Er sah so umwerfend gut aus, dass ich mich für eine Sekunde fragte, ob ich ihn schon einmal im Fernsehen oder so gesehen hatte.
Er sagte nichts, sondern starrte mich nur an, und es dauerte einen Moment, bis ich meine Sprache wiederfand, weil irgendetwas an ihm, vielleicht seine Sonnyboy-Attraktivität oder die flachen, prüfenden Augen mich aus dem Gleichgewicht brachten. Er taxierte mich mit dem abschätzenden Blick, der universell war in der guten alten Zeit der Playboy-Häschen und der Witze über dumme Blondinen, einem unverhüllt sexuellen Blick, dem jede Wärme oder Leichtigkeit, die ihn auch nur annähernd amüsant hätten machen können, fehlte. Er registrierte das rote, aus meinem Gesicht gestrichene Haar, die Eins-fünfundsiebziger-Läuferinnen-Statur und die grau-grünen Augen ohne ein Wort.
»Hallo«, sagte ich. »Mein Name ist Breeze Copen. Ich bin auf der Suche nach Jena Jensen, einer alten Freundin von mir.« In dem Moment, als ich ihm meinen Namen nannte, wusste ich bereits, dass der nächste Satz überflüssig war. Nach außen hin veränderte sich nichts, aber ich konnte die Veränderung in der Atmosphäre spüren. Es stellte sich nicht die Frage, ob das hier das richtige Haus war. Irgendwie hatte ich es gewusst, sobald ich ihn sah.
»Tut mir leid, dass ich nicht vorher angerufen habe. Ich bin auf der Durchreise, und mein Anschlussflug hat Verspätung. Ich dachte, ich nutze die Gelegenheit und fahr mal vorbei.«
»Wie haben Sie Jena gefunden?«
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