Die Clans von Stratos
Sechsundzwanzig Monate vor ihrem zweiten Geburtstag begriff Maia den wahren Unterschied zwischen Winter und Sommer.
Es war nicht einfach das Wetter, auch nicht die Gewitter, die sich in der heißen Jahreszeit mit Blitz und Donner zwischen den großen Schiffen im Hafen entluden. Auch nicht das blendende Licht des Wengelsterns, das sich von dem der anderen Himmelskörper so stark unterschied.
Nein, der wahre Unterschied war viel persönlicher.
»Ich kann nicht mehr mit dir spielen«, hatte ihre Halbschwester Sylvina eines Tages halb im Scherz gesagt. »Weil du einen Vater hast!«
»S-stimmt gar n-nicht!« stammelte Maia, vor Aufregung wieder einmal stotternd, denn sie wußte, daß das Wort Vater irgendwie schmutzig war. Sylvies Bemerkung tat ihr weh, als bliese ein bitterkalter Gletscherwind durch die Kinderkrippe.
»Stimmt wohl! Du hast einen Vater, du dreckige Var!«
»Dann… dann bist du auch eine Var!«
Sylvie lachte laut. »Ha! Ich bin eine reine Lamai, genau wie meine Schwestern, wie meine Mütter und Großmütter! Aber du bist ein Sommerkind. Deshalb bist du ein- maalig. Var!«
Wut und Verzweiflung schnürten Maia die Kehle zu, und sie konnte nur stumm zusehen, wie Sylvina ihre hellbraunen Locken zurückwarf und zu einer Gruppe von Kindern davonstolzierte, die im Alter verschieden, im Aussehen jedoch vollkommen identisch waren. Ein unausgesprochenes Trennungszeremoniell hatte stattgefunden, hatte den Raum aufgeteilt. In der besseren Hälfte das Raums, drüben beim glühenden Herdfeuer, war jedes Mädchen eine kleinere, perfekte Kopie einer Lamai-Mutter. Das gleiche helle Haar, das gleiche ausgeprägte Kinn. Die gleiche typische Haltung mit trotzig erhobenem Kopf.
Hier auf der anderen Seite wurden wie immer die beiden Knaben in ihrer Ecke unterrichtet; sie merkten nichts von den Veränderungen, die sie ohnehin kaum betrafen. So blieben acht Mädchen wie Maia übrig, verstreut in der Nähe der eisbedeckten Fenster. Manche waren hell, manche dunkel, einige breiter, einige dünner. Eine hatte Sommersprossen, eine andere Locken. Was sie miteinander verband, war ihre Unterschiedlichkeit.
Bedeutet das, einen Vater zu haben? überlegte Maia. Jeder wußte, daß Sommerkinder seltener waren als Winterkinder. Früher war sie stolz darauf gewesen, bis ihr irgendwann dämmerte, daß es doch nicht unbedingt erstrebenswert war, etwas ›Besonderes‹ zu sein.
Dunkel erinnerte sie sich noch an die Sommergewitter, den Geruch der statischen Elektrizität und das Trommeln des Regens auf den Dächern von Port Sanger. Wenn die Wolken aufrissen, tanzten schimmernde Himmelsschleier wie schwebende Riesen über ferne Tundrahänge, weit vor den verschlossenen Stadttoren. Jetzt traten Winterkonstellationen an die Stelle der Farbenspiele des Sommers und zogen glitzernd über das ruhige, frostbedeckte Wasser. Maia wußte schon, daß der Wechsel der Jahreszeiten damit zu tun hatte, wie Stratos seine Sonne umkreiste. Doch sie hatte noch nicht herausgefunden, wie dies alles damit zusammenhing, daß Kinder entweder anders oder gleich geboren wurden.
Moment mal!
Einer plötzlichen Eingebung folgend, lief Maia zu dem Schrank, in dem die Spielsachen aufbewahrt wurden. Mit beiden Händen packte sie einen angeschlagenen Handspiegel und trug ihn dorthin, wo ein anderes dunkelhaariges Mädchen in ihrem Alter saß und mit Soldaten spielte, ihnen Schwerter zurechtsteckte und die langen Haare bürstete. Maia hielt sich den Spiegel vor und verglich ihr Gesicht mit dem des anderen Kindes.
»Ich sehe aus wie du!« verkündete sie. Sie drehte sich um und rief Sylvana zu: »Ich kann keine Var sein. Leie sieht aus wie ich!«
Doch das triumphierende Gefühl schwand, als die anderen anfingen zu lachen, nicht nur die hellhaarigen, sondern alle Kinder im Raum. Maia blickte Leie stirnrunzeln an. »A-aber du siehst wirklich aus wie ich. Sieh doch!«
Der Singsang »Va-ar! Va-ar!« trieb Maia das Blut ins Gesicht, aber Leie achtete weder darauf noch auf den Spiegel, sondern packte Maia am Arm und zerrte so daran, daß das Mädchen unsanft neben ihr auf dem Boden landete. Dann legte Leie einen Spielzeugsoldaten auf Maias Schoß, beugte sich zu ihr und flüsterte: »Benimm dich doch nicht so blöd! Du und ich, wir hatten denselben Vater! Eines Tages gehen wir an Bord seines Schiffs. Wir werden segeln, werden Wale sehen und auf ihnen reiten. Das machen Sommerkinder, wenn sie groß sind.«
Nach dieser überraschenden Erklärung machte sich Leie zufrieden
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