Wenn er mich findet, bin ich tot
der Welt ist im Sommerloch verschwunden. Ferienzeit, Zeit der Stille. Zig Einladungen hat Kolja ausgeschlagen. Er hatte die Möglichkeit, im In- und Ausland, auf Bergen oder am Strand, wahlweise mit Mia, Lena, Anna, Lisa, Laura, Sarah, Hanna oder den Schlossgrazien Franziska, Helena und Luise auf einem Handtuch zu liegen. Paolos Optionen interessieren mich nicht, seitdem ich weiß, dass ich ihn liebe. Ich bilde mir ein, dass ich alle Zeit der Welt habe. Außerdem ist er hier neben mir. Zwischen uns stapeln sich Lernmaterialien. Mein Steiß tut weh vom Rumsitzen.
AUA!
»Als Dr. Motta mit Kiffern rumgezogen ist und ich als Gegenentwurf vom Ende unserer Betreuung gefaselt hab,war meine Vision nicht, dass wir Doktorarbeiten fälschen wie unsere dummen Politiker«, motze ich.
»Du bist bloß zu faul, dir Bio reinzuziehen«, sagt Kolja.
Stimmt, aber das bringt mich auf eine Idee. »Hast du die Nummer von Frau Huber?«
»Die ist in den Ferien. Wieso?«
»Ich mach die praktische Prüfung in Sport«, kommt mir genüsslich über die Lippen.
Kolja, perplex: »Geht das denn?«
»Laut Prüfungsordnung, ja. Und für Sport muss ich nichts tun.« Grins. »Wann holen wir uns die Prüfungsunterlagen?«
»Zehn Tage vorm Prüfungstermin sind sie im Schulamt.« Kolja hat recherchiert.
»Und wieso machen wir bis dahin keine Pause? Alle machen Ferien, ich will das auch!«
»Dir fehlen deine Panikattacken, Tilly, und mir auch. Ohne deine Adrenalinschübe bist du unerträglich hibbelig.«
Paolo hat recht. Ich hab noch gar nicht realisiert, dass sie weg sind. Innerlich juble ich: Paolo passt auf mich auf! Er achtet auf mich! Ich leg mich ins Gras und sage: »Mit eurer Hilfe ist das Chaos in meinem Leben übersichtlicher geworden. Und seit ein paar Tagen ist es richtig schön und friedlich auf der Welt.«
»Saft wäre mir lieber als leere Worte.« Kolja hält die leere Flasche hoch. »Nimm Ritalin oder trink mehr, Tilly, dann kannst auch du dich besser konzentrieren.«
»Ich bin es euch schuldig, dass auch euer Dasein aufgeräumter wird.« Ich lass mich nicht beirren.
»Mir wäre was zu Trinken auch lieber«, sagt il Chefe Paolo.
»Ich meine, nach den gelungenen Einbrüchen könnten wir die Methode auch auf unser Datenleben und auf unser Aktendasein anwenden. Wir ziehen eine kilometerlange Aktenblätterspur hinter uns her. Nicht gerade eine Zierde unsrer Lebensläufe, sondern Scheiße am Schuh. Habt ihr den Aktenberg aufm Schreibtisch von Kommissar Preuß in Frankfurt noch vor Augen? Den sollten wir ausdünnen, löschen, verschwinden lassen. Im Sinne von angewandtem Datenschutz aktenunkundig werden.«
Die beiden starren mich an.
Kolja, baff: »Und du sagst, du willst Ferien machen?«
Paolo: »Was soll das, Obergestörte?«
Ich doziere: »Stigmatisierung. Mein neues Fremdwort Stigma bedeutet Wundmal. Als vorbestrafte Heimkinder werden wir einer sozialen Randgruppe zugeordnet …«
»Schon verstanden«, sagt Kolja. »Bin dafür.«
»Ich bin für die Logistik zuständig«, schränkt Paolo ein.
Kolja: »Ich manage den Zugang und Tilly steuert den nötigen Wahnsinn bei.«
»Wobei denn, wenn ich fragen darf?«, fragt der Chef.
Herzinfarkt! Unerträglich, diese Anschleicherei! Wir haben ihn nicht kommen hören.
»Von Würzburg nach Ulm kann man dreihundert Kilometer auf dem Jakobsweg wandern. Wir wollen nicht die ganze Strecke machen, aber ein Stück. Was meinst du?« Paolo sieht den Chef erwartungsvoll an.
Kolja greift nach der Saftflasche und haut ab. In mir steigt Hysterie auf und ich ringe mit aller Macht um Fassung.
»Pater Johannes Kloop sagt, der Weg durchs Taubertal sei sehr spirituell«, fährt Paolo fort.
Unglaublich! Wahrscheinlich hat er den Pater tatsächlich irgendwann mal so etwas äußern hören.
Der Chef fixiert mich. »Was sagst du dazu?«
»Bin absolut für Bewegung nach der endlosen Sitzerei und dem Büffeln, aber ich will nicht von spirituellen Wanderern angelabert werden. Ich bin gegen den … Jakobsweg.«
»Die Strecke ist organisiert. Es gibt billige Wanderheime. Ihr könnt mich jederzeit erreichen und es ist in der Nähe. Alles spricht dafür.«
Kolja hat nasse Haare, als er wiederkommt. Er muss sich kaltes Wasser über den Kopf gegossen haben, aber seine Augen funkeln immer noch irre. Ich kuck schnell weg.
»Wenn du nicht angesprochen werden willst, Tilly, spricht dich auch niemand an«, sagt der Chef. Wieder einmal ist er von Dr. Mottas Kunstgriff umgedreht worden und merkt es nicht einmal.
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