Wenn er mich findet, bin ich tot
sagt er.
Doch, wir fahren einträchtig übers Land. Ich kontrolliere unauffällig, ob jemand hinter uns her ist. Paolo schwimmt mit mir bis zum alten Baggerkran und die Mädchen halten einen Mindestabstand zu Koljas Badehose.
Ein gelungener Sommertag.
Am Himmel ziehen sich die ersten Wolken seit Langem zusammen. Wir sitzen vorm Venezia in Rastkirch und schlabbern Eis. Ich bin bei Joghurt-Kirsche, hab an der Erdbeere noch kaum geschleckt, geschweige denn an der Schokokugel, die tief in der Waffel steckt, da öffnet sich der Himmel und duscht den Staub von allen Dingen ab, die unter freiem Himmel sind.
»Hm«, ich atme tief durch die Nase ein. »Ein genialer Geruch. Mein absoluter Lieblingsgeruch, der erste frische Regen auf altem Staub.« Ich halte die Hand übers Eis, schließe die Augen und lächle. Als ich sie öffne, sitzen der Chef, Paolo und Kolja genauso da. Warmes, tiefes Glück rauscht durch mein Blut, und ich muss auflachen, aufjauchzen. Wir lachen uns zu viert schlapp, klatschnass. Die anderen Gäste grinsen aus der Eisdiele zu uns herüber. Der Kellner pocht gegen seine Stirn. Nur ein Kind entwischt seiner Mutter und tanzt im Regen zwischen den fluchtartig verlassenen Tischen herum.
»Mara! Komm sofort rein!«, brüllt es aus der Eisdiele.
»Nein! Komm raus!«
Der Chef lässt Klamotten springen. Ich kaufe mir in einem Billigladen ein Fehldruck-Madonna-T-Shirt mit passenden Shorts in Pink für € 4,–. Die Jungs brauchen ewig und das Zehnfache an Geld.
»Madonna Bad Girl«, Kolja grinst. »Tilly kann alles tragen, weil sie schön ist. Andere Mädchen wären mit diesem Ensemble entstellt.«
Mir fällt keine Entgegnung ein, aber ich gewinne eine ungefähre Vorstellung davon, wie Kolja seine große weibliche Fangemeinde einfängt.
»Hauptsache, ihr verfärbt mir nicht die Autositze«, sagt der Chef, der auf zeitlose Jeans und Kariertes steht.
Der gemeinsam verbrachte Tag hat Leichtigkeit in unser ländliches Heim gebracht.
»Ich koch uns was«, ruft der Chef von unten hoch.
»Nein«, rufen wir von oben nach unten.
In mir haben die Glücksmomente eine Wand eingerissen.Mit blutigen Händen hab ich damals erste Löcher reingebohrt und bin aus der Nacht, in der ich mit Julie begraben war, in den Tag geflohen. Heute hat das Glück den Durchbruch so weit vergrößert, dass ich nicht allein durchgehen muss.
BANG! BAZZ! BOING!
Nur ein Lachen, ein Lachen im Regen mit den Menschen, mit denen ich zusammenlebe, und mit Paolo, den ich liebe. Okay, ein Brüllgelächter mit Regentanz, aber es hat gereicht. Wie leicht das ist! Paolo, Kolja und der Chef haben mich mit vor Freude blitzenden Augen angesehen und meine Augen haben auch geblitzt. Ich habe Blitze auf alles geworfen, was ich angesehen habe.
YIPPIE!
Schlafen ist unmöglich. Ich schleich mich hinters Haus und setze mich auf den Holzspaltklotz. Der starke Regen hat die Sterne poliert. Die Milchstraße zieht sich über den Himmel. Eine Sternschnuppe warte ich ab, damit ich mir was wünschen kann. Was ich mir wünsche, weiß ich genau und überkreuze schon mal Zeige- und Mittelfinger an beiden Händen. Bin bereit, in Wunschposition, aber nicht auf ein Husten hinter mir vorbereitet. Ich fahre herum und erschrecke meinerseits eine Igelfamilie. Igelmutter oder -vater, wer weiß das schon bei Igeln, und vier Junge schmeißen sich ins Gras und machen sich rund. Mir rast das Herz. Der dicke Husten-Igel und ich linsen uns an. Angsthase und Igel. Es dauert eine Weile, bis sie ihre langen, dünnen Beine ausfahren und überraschend schnell in unserem Gemüsegarten verschwinden. Macht euer Testament, Nacktschnecken, das war’s! Zu spät, die Igel schmatzen schon. Ich lege den Kopf wieder in denNacken, versinke im Anblick des Weltraums und beobachte einen Satelliten. Von rechts fällt eine wunderschöne Sternschnuppe vom Himmel. Finger sind bereits über Kreuz, die Augen zu. Und mein Wunsch ist: Rummachen mit Paolo im Stile der Nacktschnecken, bloß ohne schmatzende Igel. Ich träume von seiner Haut, seinen Lippen, geflüsterten italienischen Worten und so.
27
Korrekturen
»Wenn wir die Realschulprüfung machen, kennen wir uns genau ein Jahr«, sagt Paolo.
»Nie im Leben bau ich mitten in einer giftigen Weltallsuppe ’n Rieseniglu«, fällt mir dazu wieder ein.
»So was merkst du dir, aber über den Schulstoff legt sich der Schleier des Vergessens.« Paolo spielt auf den Umstand an, den ich eben beklagt habe.
Wir lernen im Hochsicherheitsgarten. Der Rest
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