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wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Tietgen
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Straße zum Rübenkamp. An der Ecke sehe ich Blaulicht, einen Krankenwagen vor Jans Tür, Männer mit einer Trage, Jans Eltern, Dirk. Die Männer schließen die Heckklappe. Jans Mutter ist in den Wagen gestiegen, sein Vater und Dirk stehen auf dem Bürgersteig. Die Sirene.
    Dirk entdeckt mich, kommt auf mich zu. »Danke. Woher hast du das gewusst?«
    Sein Vater geht ins Haus, den Kopf leicht nach vorne gebeugt.
    »Ich wusste es irgendwie. Kommt er durch?«
    Er nickt. »Der Notarzt meinte ›Ja‹. Warum sollten wir den Krankenwagen rufen? Hättest du ihm nicht helfen können?«
    » Vielleicht«, antworte ich. Jetzt, wo Jan auf dem Weg zum Krankenhaus ist, spüre ich, wie kalt es ohne Jacke ist. Ich zittere leicht. »Aber ich könnte mir nie verzeihen, wenn er stirbt, weil ich meine Kräfte überschätze.«
    Wir stehen in der Kälte, unsere Zähne klappern um die Wette und wir sind beide zu aufgewühlt, um uns zu trennen. Ich hätte mir Zigarette n mitnehmen sollen.
    »Kannst du das bei allen oder nur bei jemandem, den du so gern hast, wie Jan?«
    Ich zucke die Schultern. »Was meinst du?«
    »Diese Vorhersagen?«
    »Es war das zweite Mal. Beim ersten Mal war der Junge schon tot.«
    »Das muss ätzend sein«, murmelt er vor sich hin. »Ich stelle es mir ätzend vor, so was zu sehen. Auch das Heilen. Ich möchte das nicht können.«
    Ich sehe ihn an, sehe die Ähnlichkeit zu seinem Bruder und höre Worte, nach denen ich mich noch vor zwei Wochen gesehnt hätte. Endlich jemand, der mich versteht, der eine Vorstellung davon hat, was es heißt, von Fähigkeiten überrollt zu werden.
    »Es hat ja auch etwas Gutes.«
    »Trotzdem ist es ätzend.« Dirk steckt die Hände in die Hosentasche. Durch eingezogene Schultern versucht er, sich vor der Kälte zu schützen. Aber er zittert nur noch mehr.
    »Ich werde mal wieder gehen. Morgen gehe ich nach der Schule ins Krankenhaus.«
    »Nochmals danke.«
    Ich nicke ihm zu, drehe mich um und gehe langsam, freue mich auf die Zigarette und bin sicher, meine Mutter wird noch wach sein und auf mich warten.
    »Moment noch!«, ruft Dirk mir hinterher. Ich warte, bis er bei mir ist. »Hast du eine Ahnung, warum Jan das getan haben könnte?«
    »Ja.«
    »Meinst du, es ist, weil er …« Dirk druckst, schaut an mir vorbei irgendwo in den Nachthimmel. »… weil er sich in dich verliebt hat?«
    »Woher weißt du das?«
    Er grinst auf einmal. »Das merkt man doch. Der redet doch nur noch von dir. Liebst du ihn nicht?«
    »Doch.«
    Ein bisschen zögert er, zuckt mit dem Arm, als ob er mir eine Hand auf die Schulter legen möchte. Er schaut auf den Boden, beißt sich auf die Lippe. Als er mich wieder ansieht, schüttelt er den Kopf.
    »So ein Scheiß. Dann hätte er doch glücklich sein müssen.«
     
    Meine Mutter ist noch wach, als ich die Tür aufschließe. Sie hat sich Tee gekocht und gelesen.
    »Alles in Ordnung?«, fragt sie.
    Ich gebe ihr einen Kuss und schaue in ihre Augen.
    »Ja.«
     

Vom endgültigen Abschied (1984)
     
    Sechshunderttausend Menschen demonstrieren an den Ostertagen für den Frieden , aber der amerikanische Präsident scherzt vor eingeschaltetem Mikrofon, die Bombardierung der UDSSR beginne in fünf Minuten. Indische Regierungstruppen töten tausend Inder und die Bundeswehr entlässt ihren ranghöchsten General, weil der wegen seiner Homosexualität zum Sicherheitsrisiko geworden sei.
    Mein Vater wi rd in den Duschräumen des Gefängnisses ermordet, meine Mutter verlässt das Reich des Friedens.
    » Warum konntest du ihr nicht helfen?« Michi fragt leise, so als könnte sie jemanden stören. Wir stehen draußen vor der Kapelle, ich nutze die Wartezeit für eine Zigarette. Michis Mutter hat sich bei ihrem Mann eingehakt. Der Tag ist zu schön für dunkle Anzüge und für den Tod.
    »Niemandem hätte ich lieber geholfen, aber es war wohl jemand der Meinung, es wäre an der Zeit für sie.«
    Meine Tränen verstecken sich irgendwo hinter den Beruhigungstabletten, die mich so sehr dämpfen, dass ich gar nicht mehr weiß, wie es mir geht.
    »Aber ihr Niesel. Er muss doch zu dir gekommen sein.«
    Ich schüttle den Kopf leicht. »Nein. Er ist langsam verblasst, je weiter die Krankheit fortschritt. Ich konnte nur zusehen, aber nichts dagegen tun.«
    Wir gehen langsam zur Kapelle, begrüßen den Redner. Einen Pastor hätte Mama nicht gewollt.
    »Es war schwer«, sage ich, »die Kraft zu akzeptieren, ab und zu jemandem helfen zu können. Es ist noch schwerer, den Tod zu akzeptieren.

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