Wenn Kinder um sich schlagen
sie wollen, weitestgehend ohne elterliche Kontrolle und damit auch ohne elterliche Korrektureinflüsse (vgl. Kapitel 4, »Unzureichende elterliche Aufsicht und Anleitung«, Seite 58 ff.). Diese elterliche Vernachlässigung führt bei den betroffenen Kindern erneut zu Ablehnungsgefühlen. Diese Ablehnungsgefühle schweiÃen die Peergroup noch enger zusammen.
Â
Ron, Melanies Freund, hatte sich darauf spezialisiert, andere Mädchen zu ärgern, sie zu schlagen und ihnen Taschengeld abzunehmen. Ron kam aus einem völlig anderen Elternhaus. Eigentlich war er ein Wunschkind. Seine Mutter war bei seiner Geburt 29 Jahre alt, sie war schon damals beruflich selbstständig, hatte eine eigene Boutique in der Stadt. Sein Vater, zehn Jahre älter als seine Mutter, war Finanzberater und beruflich sehr eingespannt. Geld war genug in der Familie, Alkohol spielte keine Rolle, die Eltern prügelten sich nicht. Aber schon wenige Wochen nach Rons Geburt spürte Franziska, seine Mutter, die starke Belastung, die durch die Versorgung eines Babys auf sie einwirkte. Sie war ständig erschöpft, kümmerte sich aufopferungsvoll um ihr Baby. Ron musste nie lange schreien, er wurde sofort hochgenommen und gestillt, Tag und Nacht. Ãber die innere Anspannung im Rahmen der Ãberforderung entwickelte Rons Mutter schon nach wenigen Wochen Groll und Ablehnungsgefühle Ron gegenüber. Um ihr Geschäft konnte sie sich nicht mehr kümmern, die Umsätze gingen zurück und auch diesbezüglich hatte sie Sorgen. Ihr Wunschkind Ron war rasch eine Last geworden. Er schrie sehr viel, litt an Dreimonatskoliken, sie wusste überhaupt nicht mehr, was sie mit ihm machen sollte. Immer wieder schrie sie in ihrer Verzweiflung ihr Baby an, brachte es in sein Zimmer und hielt sich im Nebenraum verzweifelt die Ohren zu, da sie das erbärmliche Geschrei nicht ertragen konnte. Sie fühlte sich schuldig. Und die Beziehung zu Ron hatte einen Riss.
Friedrich, ihr Mann, war ihr keine Hilfe. Er war jeden Tag von morgens 7 Uhr bis abends 22 Uhr unterwegs, hatte auch am Wochenende Termine und zeigte relativ wenig Verständnis für ihre Not. Als Ron Krabbeln und Laufen lernte, kam es immer wieder zu Reibereien. Ron erwies sich als sehr zerstörungswütig. Mit zehn Monaten schob er immer wieder seinen Brei vom Tisch, sodass der Brei in der Küche verspritzte und seine Mutter jedes Mal der Verzweiflung nahe war. Mit 15 Monaten riss er immer wieder die CDs seines Vaters aus dem Schrank, einige gingen dabei zu Bruch. Mit zwei Jahren schlug und kratzte er seine Mutter, wann immer es ihm in den Sinn kam. Franziska fühlte sich durch ihre Schuldgefühle regelrecht gelähmt. Sie war ihrem kleinen Ron hilflos ausgeliefert und konnte ihm keinen Einhalt gebieten. Friedrich hatte natürlich auch Schuldgefühle, da er nie da war und nie zur Verfügung stand. Diese Schuldgefühle machte er sich jedoch nicht klar und gestand sie sich nicht ein. Stattdessen vertrat er die Auffassung, dass man ein kleines Kind erzieherisch nicht einschränken dürfe, es müsse sich rückhaltlos ausprobieren können. Die kleinen Zerstörungen ärgerten ihn zwar, aber auch er gebot Ron keinen Einhalt.
Als Ron neun Monate alt war, arbeitete Franziska wieder in ihrer Boutique. Ron verbrachte nun den GroÃteil des Tages bei seiner GroÃmutter, Franziskas Mutter, die ähnlich »locker« mit ihm umging.
Â
Obwohl Ron ein Wunschkind war und aus gut situierten sozialen Verhältnissen kam, entwickelte sich bei ihm durch »antiautoritäre Vernachlässigung« mit vereinzelt auftretenden Jähzornesausbrüchen seiner Eltern eine ähnliche problematische Störung seines Sozialverhaltens wie bei Melanie.
Â
Ron war zwar wie gesagt ein Wunschkind, passte jedoch nicht ins Lebenskonzept seiner Eltern. Dies war seinen Eltern jedoch
zu keinem Zeitpunkt wirklich klar. Die Mischung aus Wut und Schuldgefühlen bei seiner Mutter beeinträchtigte die Beziehung zu ihm schwer. Sie zog sich schnell wieder in ihren Beruf zurück, anerkennende Aufmerksamkeit wurde ihm nie zuteil. Ab und zu, wenn es gar zu arg kam, zum Beispiel, als Ron den Lack von Vaters neuem Sportwagen zerkratzte, wurde auch Friedrich wütend. Er brüllte, auÃer sich vor Wut. Dann war Friedrichs Wut aber auch schnell verflogen und dieses gleichgültige, vernachlässigende Verhalten gewann wieder die Oberhand. Wenn sein
Weitere Kostenlose Bücher