Wenn Kinder um sich schlagen
Ungeschicklichkeit, sondern auch bei anderen »zerstörerischen Erkundungen« ihrer Umwelt reagierte Heike immer wieder sehr aggressiv. Sie schrie Melanie an und schlug ihr mehrfach auf die Hände und ins Gesicht. Da Melanie, wenn sie sich ruhig und freundlich verhielt, jedoch nie die Aufmerksamkeit erhielt, die sie brauchte, lernte sie sehr schnell, sich durch zerstörerisches Verhalten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu rücken. AuÃerdem lernte sie von klein auf, dass laute Sprache, unfreundliche Worte und ruppiger Körperkontakt scheinbar die »normale« Art sind, wie Menschen miteinander umzugehen pflegen.
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Durch dieses Lernen am »Vorbild« der Eltern (» Lernen am Modell «, s. Seite 32) kam es immer häufiger zu unangenehmen Verhaltensweisen, die dann wiederum von ihren Eltern mit ruppiger Bestrafung und einer feindseligen Atmosphäre »geahndet« wurden.
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Melanies »schwieriges Verhalten« blieb bestehen. Ständig erntete sie von ihren Eltern heftiges Gebrüll oder gar Schläge. Trotzdem war Melanie nicht in der Lage, ihr Verhalten zu ändern. Die Reaktionen ihrer Eltern waren für sie keine unangenehme Strafe, sondern »Zuwendung«. AuÃerdem war es ihr nicht möglich, eine ihrem Alter entsprechende normale Geschicklichkeit zu erlernen, die ihr geholfen hätte, behutsamer und vorsichtiger mit den interessanten Dingen ihres Wohnumfeldes
umzugehen. Denn aufgrund der frühen Geburt hatte ihr junges Nervensystem Sauerstoffmangel und andere Stressfaktoren erleiden müssen, alles Dinge, die sie dauerhaft beeinträchtigten. Daher war sie in der Bewegungsentwicklung, der Sprachentwicklung und im Lernvermögen eingeschränkt. Ihre Eltern schienen diese Zusammenhänge jedoch nicht zu verstehen. Das aggressive elterliche Verhalten gegenüber Melanie wurde im Laufe der Zeit weniger. Die Eltern waren frustriert, dass »nichts half«. Also lieÃen sie Melanie im Rahmen ihrer eigenen elterlichen Ermattung und Bequemlichkeit einfach machen.
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Die Eltern ersetzten ihr gewalttätiges Verhalten gegenüber Melanie durch vernachlässigende Gleichgültigkeit. Auf diesen »Entzug von Aufmerksamkeit« reagierte Melanie mit verstärktem »schwierigen Verhalten«, um vereinzelt die bekannten aggressiven Zuwendungen ihrer Eltern zu erhalten.
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Bei Melanie kam es jetzt immer wieder zum dringenden Bedürfnis, sich durchsetzen zu wollen. Die wenigen »trotzigen« Zornesausbrüche, die auftraten, waren jeweils sehr beeindruckend. Einmal kam es zu einer Szene im Supermarkt, als Melanie unbedingt die bunten Bonbons an der Kasse haben wollte. Sie griff mit beiden Händen in den Bonbontopf, und als Heike die Bonbons wieder zurücklegen wollte, begann Melanie zu schreien, warf sich auf den Boden, kreischte und wälzte sich. Heike war diese Situation äuÃerst peinlich, schnell gab sie Melanie die Bonbons zurück, das Geschrei verstummte sofort. Heike vermied in Zukunft solche Auseinandersetzungen. Melanie erhielt fast alles, was sie haben wollte. Zu Trotzanfällen kam es nur selten, da Heike keine Regeln aufstellte und keine Grenzen setzte. Melanie bekam alle möglichen SüÃigkeiten und Spielsachen, nur damit sich Heike in ihrer Ãberforderung und Bequemlichkeit nicht diesen Auseinandersetzungen
stellen musste. Melanie bekam jedoch keine Liebe. Sie lernte aber in dieser Lebensphase das Gefühl der Macht kennen. Macht gegenüber Heike, ihrer Mutter. Diese Machtgefühle wurden zu einem Ersatz für das nicht vorhandene Gefühl, geliebt zu werden.
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»Trotzverhalten« ist ein Zeichen sich entwickelnden eigenen Willens, des Bedürfnisses, sich durchzusetzen. Dieses Verhalten ist natürlich, die Kinder gehen dadurch einen Schritt in Richtung Selbstständigkeit.
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Mit knapp drei Jahren kam Melanie in den Kindergarten. Schon am ersten Tag im Kindergarten bemerkte die betreuende Erzieherin, dass Melanie anders war als die meisten Kinder. Es schien, als ob Melanie die Erwachsenen und anderen Kinder gar nicht wahrnehmen würde. Melanie blickte nicht zurück zur Oma, die sie gebracht hatte, sie registrierte nicht die freundlich auf sie zugehende Erzieherin, sie sah offensichtlich nur die reichlich vorhandenen Spielsachen, stürmte in den Gruppenraum und zerstörte zielstrebig einen hohen Bauklotzturm, der gerade von einigen älteren Kindern in
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