Wenn Licht die Nacht durchdringt: (Teil 2) (German Edition)
Stunden Schlaf, die sie hinter sich hatte, waren keinesfalls genug, so viel war sicher.
„Hör mal, Marah: Ich denke, du solltest dich wieder aufs Ohr hauen. Ich kümmere mich um Gwen. Du hast den Schlaf dringend nötig.“
„Ich kann mich doch jetzt nicht hinlegen“, empörte sie sich und sah von ihm zu Gwen und wieder zurück zu ihm.
„Doch – kannst du, musst du und wirst du. Weil du unsere magische Lebensversicherung bist. Wenn dein Akku leer ist, sind wir alle schlecht dran – oder?“
Marah zog eine Grimasse. „Aber ich kann nach dem Ganzen ohnehin nicht mehr einschlafen.“
„Pah, und ob du das kannst“, entgegnete er grinsend. „Leg du dich hin – ich mach das schon. Ich rede mit Gwen und unserem
Helden,
damit wir wissen, was wir jetzt tun sollen …“ Als er Marahs Gesichtsausdruck sah, steuerte er rasch zurück. „Tut mir leid. Ich kläre das – wirklich. Friedlich.“ Er formte Zeige- und Mittelfinger zum Peacezeichen.
Marah seufzte. „Gwen? Wenn du lieber mit mir reden willst – oder mit den beiden und mir, dann ist das kein Ding. Zwischen zwei Hähnen zu stehen, die beide ein ausgeprägtes Geltungs- und Dominanzgebaren an den Tag legen, bringt nicht wirklich viel Vergnügen. Wenn du also weibliche Unterstützung brauchst, kann ich das gut nachvollziehen.“
„Zwei Hähnen …? Mit ausgeprägtem Geltungs- und Dominanzgebaren …?“,
echote er pikiert, doch niemand ging auf ihn ein.
„Nein, es ist in Ordnung. Ich gehe mit Jonathan nach unten und du schläfst noch ein paar Stunden.“
„Sicher?“, hakte Marah abermals nach.
„Ja. Sicher.“
***
Nikolaj lief so schnell, dass es ihn fast der Länge nach hinschmiss. Den weichen, nachgiebigen Untergrund der Wiese unter seinen Schuhen spürend, der ungerührt das Gewicht seines Körpers und seiner inneren Last trug, entfernte er sich immer weiter vom Haus. Schließlich öffnete er ein Portal, hastete hindurch und ließ seine Füße auf anderem Boden Halt finden. Ebenfalls ein weicher, nachgiebiger Grund, doch nicht mehr in Italien, nicht mehr in der Nähe von Gwen. Nicht körperlich. Emotional gesehen, war sie überall. In seinem Kopf, seinem Herzen – an diesem Ort, wo sie sich das erste Mal begegnet waren und so viele Male getroffen hatten.
Eine dünne Schneeschicht lag noch auf dem Grund, den beiden Schaukeln, der Wippe und dem Sandkasten. Er schritt auf eine der Schaukeln zu, wischte den Schnee mit der Hand herunter und blieb an einem Splitter im Holz hängen. Ein feiner Blutstropfen perlte an seiner Fingerkuppe herab auf den Boden. Im Schnee ging er auf, wie eine kleine Blüte.
Ekel überkam ihn. Ekel und Hass sich selbst gegenüber. Was hatte er aus Gwens Leben gemacht? Was war aus ihrem Leben geworden, nur, weil er darin aufgetaucht war? Nur, weil er Teil davon sein wollte? Selbst jetzt, nach all dem, was passiert war, wollte sie ihn noch bei sich haben – wie war das möglich?
Nein, nein, nein …
Er ließ sich rücklings auf den Boden gleiten, wollte, dass die Kälte ihn klarer werden und seine Grenzen spüren ließ. Jede andere Wahrnehmung, egal wie unangenehm, war besser, als das, was er in sich fühlte. Nässe drängte durch den Saum seines Mantels und ließ eine Gänsehaut auf seinem Rücken aufkommen. Er nahm es gleichgültig wahr. Sein Blick fixierte den dunklen Himmel. Den Himmel, der in ein paar Stunden hell werden würde. Einst hatte er nur Dunkelheit gekannt. Einen dunklen Himmel, einen dunklen Tag, ein dunkles Leben. Dann war er auf die Erde gekommen – und hatte Gwen getroffen. Und fortan hatte es in seinem Leben hell und dunkel, Tag und Nacht, ein entweder oder gegeben.
Er hatte seine Chance gehabt, als sie von ihren Eltern fortgebracht worden war. Dies war seine Chance gewesen, sie in Ruhe zu lassen, ihr ein sicheres Leben zu gewähren. Er hätte nur bei Céstine bleiben und sich an sie halten müssen. Zwar hatte sie sich seiner Sehnsucht nach Gwen bedient, sie zu ihren Gunsten gewandelt und ihn glauben lassen, dass
sie
die Erfüllung jener Sehnsucht wäre, doch auch wenn das eine Lüge gewesen war, so wäre sie doch die Lösung, die Chance gewesen. Für Gwen. Für ihr Glück.
Und jetzt, hier in diesem Augenblick, konnte er nur noch Dunkelheit erkennen, weil alles in Dunkelheit ertrunken war – alles im Außen und alles in ihm selbst. Ertrunken in Dunkelheit und Schmerz, einem unsäglichem und undefinierbaren Schmerz, der ihm fast das Herz aus der Brust fetzte, ihm fast jede Ader in tausend Fasern
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