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Wenn Wir Tiere Waeren

Titel: Wenn Wir Tiere Waeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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überraschen konnten. Die beiden waren jetzt so weit von mir entfernt, dass sie plötzlich aussahen wie zwei gescheiterte Clowns aus einem anderen Land. Ich fragte mich, wer von beiden fremder aussah. Beide, Vater und Mutter, waren unterempfindlich. Wahrscheinlich war dieUnterempfindlichkeit nötig, anders hätten sie nicht leben können. Immer noch war es mir ein Rätsel, wie unterempfindliche Eltern einen überempfindlichen Sohn hatten in die Welt setzen können. Vermutlich verstanden sie das auch nicht. Dabei waren sie beide nur ahnungslos und völlig naiv. Die Mutter stand (zwei Köpfe kleiner als ihr Mann) neben meinem Vater, ihre linke Hand in den angewinkelten Arm ihres Mannes geschoben. Sie lachte nicht, als sie heiratete. Auch mein Vater lachte nicht. Er trug einen dunklen Übergangsmantel, der ihm bis zu den Knien reichte. Unterhalb des Mantelsaums ragten zwei verkrumpelte Hosenbeine hervor. Seine schwarzen Halbschuhe waren vermutlich kurz vor dem Auseinanderfallen. Auch Vater war, genau wie seine Frau, bedrückend schutzlos und ausgeliefert. Später erfuhr ich, dass er zur Zeit der Eheschließung als Montagearbeiter in der Nähe von München gelebt hatte. Er verdiente so wenig, dass er sich als Unterkunft nur eine nicht heizbare Holzbaracke leisten konnte. Seine Frau lebte getrennt von ihm bei ihren Eltern. Durch seine ärmliche Kleidung entgleiste das sowieso schon entgleiste Paar noch einmal. Ich wollte über das Bild (wie schon öfter) lachen, aber es klappte nicht. Ich fand es unpassend, dass ich mich immer noch mit der Armut der Eltern beschäftigte. Eigentlich hatte ich angenommen, dass sich diese Einfühlung irgendwann von selbst auflösen würde. Offenkundig war das Gegenteil der Fall. Ich hatte Mitleid mit den Eltern wie mit Leuten, die sich selbst vernachlässigt hatten und nicht recht wussten, was sie tun sollten. Tatsächlich hatte ich als Kind meinen Eltern gegenüber starke Fremdheit empfunden. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass diese beiden zum Lachen aufreizenden Leute meine Eltern waren. Ich überlegte, ob ich das Foto umdrehen oder ineinem Koffer verstauen sollte. Statt dessen stieg ein Wehmutsanfall in mir hoch, der mich für jeden Entschluss unfähig machte.
    Am Abend kam es zu einem unerfreulichen Auftritt von Maria, an dem ich leider selbst schuld war. Ich bewirtete sie, wir tranken Wein und plauderten. Maria schwitzte so stark, dass sie sich schon während des Abendbrots auszuziehen begann. Sie fragte scheinheilig, ob ich daran Anstoß nehmen würde. Ich musste über die Frage lachen und küsste ihr schon am Tisch den Busen. Sie trank zuviel, wogegen ich nicht einschritt. Wenn Maria wusste, dass wir bald nach dem Abendbrot ins Bett gingen, wurde sie durch den Alkohol nicht müde, sondern aufgekratzt. Aber dann geschah es. Sie ging ins Bad, um dort den Rest ihrer Kleidung abzulegen. Dabei entdeckte sie in einer Schublade einen Tampon, der nicht von ihr stammte. Weder hatte ich gewusst, dass in einer meiner Schubladen Tampons lagen, noch hatte ich gewusst, dass Maria in diese Schubladen hineinschaute. Sie stürzte aus dem Badezimmer, streckte mir den Tampon entgegen und empörte sich. Wem gehört dieses Ding? Mir war klar, dass der Tampon Karin gehörte. Nach Lage der Dinge wäre Lügen albern gewesen. Ich gab zu, dass ich von Zeit zu Zeit eine andere Frau traf, woraufhin Maria schrie und weinte.
    Sag, wer ist die Frau, sagte sie schluchzend, nein, sag es nicht, ich will es nicht wissen, wahrscheinlich ist es eine Schlunze aus eurem Betrieb, ich habe es immer gewusst.
    Sie schimpfte weiter und zog sich wieder an. Ich saß in einem Sessel und schaute schweigend in die Umgebung des Zimmers wie einst mein Vater. Maria beugte sich über mich, schüttelte meine Schultern, packte meinen Hemdenkragen und riss ihn auseinander.
    Du Lump, schrie sie, ich will dich nicht mehr sehen, geh zu deiner Büronutte.
    Als Kind hatte ich Sommerfliegen gefangen und sie in Streichholzschachteln gesperrt, nicht selten mehrere Fliegen in einer Schachtel. Die Fliegen rasten, ohne sich bewegen zu können, sie wurden fast verrückt in der Enge der Schachtel. So ähnlich fühlte ich mich jetzt. Ich saß in einer Schachtel, ich raste vor mich hin und bewegte mich kaum. Von Zeit zu Zeit faltete ich meine Hände und berührte mit den Fingerspitzen der linken Hand die Fingerspitzen der rechten Hand. Immer mal wieder glaubte ich, dass ich nachdachte, aber ich konnte nicht wirklich nachdenken. Es beeindruckte

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