Wenn Wir Tiere Waeren
mir erzählt hatte, ohne sich etwas dabei zu denken. Zärtlich und fast mütterlich einfühlsam war Maria. Sie beruhigte mich, redete mir zu, streichelte mich und setzte sich beim Vögeln oft auf mich. Da sie wenig Gewicht hatte, spürte ich hauptsächlich ihre Bewegungen und konntedabei ihren Körper lange anschauen, was mich tröstete. Bei ihr verlor ich sogar die Zwangsvorstellung, dass ich vom Leben benachteiligt sei; jedenfalls immer mal wieder. Dem tagsüber erinnerten Anblick von Maria hing ich häufig nach, wenn ich still an meinem Schreibtisch saß und Konstruktionspläne zeichnete.
Karin lobte mich, dass ich die Stelle ihres verstorbenen Mannes eingenommen hatte. Das Lob reizte mich, was ich zu verbergen suchte. Auch Maria war froh, dass ich eine feste Stelle hatte. Beide Frauen taten so, als hätte ich zuvor in riskanten Verhältnissen gelebt. Die Stelle hatte zur Folge, dass ich auch dann an meine Arbeit dachte, wenn ich gar nicht arbeitete. Früher war es genau umgekehrt: Ich dachte nicht einmal dann an meine Arbeit, wenn ich arbeitete. Nach etwa drei Wochen bildete sich zwischen den Fingern meiner linken Hand ein Ekzem. Die Haut rötete sich und sprang auf. Zuletzt hatte ich ein solches Ekzem vor vielen Jahren, als die Unmöglichkeit meiner Ehe offenkundig wurde. Ich wusste jetzt, dass irgend etwas in meinen Verhältnissen nicht in Ordnung war. Natürlich sah ich in meiner Stelle den auslösenden Faktor. In diesen Tagen überwies mir die Fahrradversicherung den Rechnungsbetrag für den neuen Sattel, 89,– Euro. Nach der Arbeit suchte ich häufig ein Terrassencafé in der Nähe des Büros auf und machte mir moralische Vorhaltungen. Die Hauptüberlegung war die Frage, ob die Kleinkriminalität ein Ausfluss verfrühter Melancholie oder des vorzeitigen Alterns war. Ich saß vor einem zur Hälfte ausgetrunkenen Milchkaffee, hörte dem Tröpfeln des Regens zu und betrachtete erneut die erbarmungswürdigen, wie Erniedrigte und Beleidigte herumstehenden Altbauten. Eine Wespe hatte starkes Interesse an meinem Milchkaffee und ließsich wie ein winziger Hubschrauber in die Tassenöffnung hinab. Ich staunte, als ich sah, wie sicher die Wespe sogar in dem engen Tasseninnenraum fliegen konnte. Mit winzigen, schnell wiederholten schaukelnden Bewegungen hielt sie sich im dünnen Luftraum der Tasse und ließ sich dann an einer weniger schaumigen Stelle der Tasseninnenwand nieder. Wenn mich in diesen Augenblicken jemand gefragt hätte, was man am besten nach Feierabend tun soll, hätte ich geantwortet: Suchen Sie sich ein kleines Tier und betrachten Sie es. Aber es kam niemand und fragte mich. Ich kratzte an den Aufschürfungen des Ekzems, so dass die Hautflecke größer und röter wurden und außerdem brannten. Vermutlich juckte es mich, dass ich vielleicht nicht den Mut aufbringen würde, mich aus dieser Lage zu befreien. Oder es juckte mich, dass ich zu feige war, mein mangelndes Interesse an einem Wochenendausflugsplan von Karin einzugestehen. Karin wurde von Zeit zu Zeit von der Angst heimgesucht, sie sei nur mangelhaft gebildet, besonders auf den Gebieten der Kunst und der Musik. Dann entschloss sie sich, eine Ausstellung in x, ein Symposion in y oder eine Tagung in z zu besuchen. Diesmal war es eine Monet-Ausstellung im Wuppertaler Von der Heydt-Museum, von der sie sich eine Abstillung ihres Mangels erhoffte. Ich hatte mit ihr schon oft solche Termine besucht und glaubte nicht mehr, dass der Bildungstourismus je aufhören könnte.
Karin wünschte, von mir (wie sie es von ihrem Ehemann gewohnt war) im Auto nach dahin und dorthin gefahren zu werden. Für Karin waren meine Dienste offenbar unproblematisch. Für sie war ich der beste greifbare Ersatzdarsteller ihres toten Ehemanns geworden. Sie sprach mit mir, als wäre ich schon immer er gewesen. Also würde ichin Kürze eine Kunstbildungsfahrt nach Wuppertal unternehmen müssen. Warum war denn wieder alles so seltsam? Das konnte doch wieder nur heißen, dass ich mit dem wirklichen Leben nicht recht verwachsen war. Die versuchte Verschmelzung war bei mir während des Vollzugs irgendwann steckengeblieben und hatte dieses jetzt wieder nach vorne drängende Seltsamkeitsgefühl hinterlassen. Weil ich mich wehrlos fühlte, verhärtete sich in mir der Verdacht, dass niemand es mir recht machen konnte, nicht einmal ich selbst, beziehungsweise: ich schon gar nicht. Ich war über diese inneren Missklänge nicht (mehr) beunruhigt. Ich kam am besten zurecht, wenn ich mich
Weitere Kostenlose Bücher