Wer Bist Du, Gott
Mönch leben kann, der sich ganz der Liebe Gottes verschrieben hat.
Die Erfahrung menschlicher Liebe hat mir gezeigt, wo mein Reden von Gottes Liebe Ideologie war. Und sie hat mich gelehrt, nun auf andere Weise von Gottes Liebe zu sprechen. Wenn ich jetzt vor der Christus-Ikone sitze und mit dem Jesus-Gebet meditiere, dann spüre ich die Liebe Christi, die in den Worten des Jesus-Gebetes zum Ausdruck kommt, und meine eigene Liebe zu ihm in einer neuen Qualität. Da bekommt die Liebe eine emotionale Färbung. Sie ist nicht mehr nur abstrakt. Dabei hilft mir die Gebärde, meine Hände in die Brustmitte zu legen und die Wärme zu spüren, die in meinem Herzen ist. In dieser Wärme erfahre ich die Liebe Christi, aber auch die Liebe zu konkreten Menschen. Die Liebe Christi wird durch die Erfahrung menschlicher Liebe für mich auch emotional spürbar.
WUNIBALD MÜLLER: Was du von deinen Erfahrungen über die Liebe zu einer Frau und die Auswirkungen auf deine Beziehung zu Gott sagst, erinnert mich an eine Erkenntnis von Pierre Teilhard de Chardin (1994, S. 255). Nachdem er herausgestellt hat, dass Gott keine Person gleicher Ordnung ist, sondern eine »Überperson«, ein »Überzentrum« - »das heißt jemand, der tiefer ist als wir selbst« -, schreibt er: »Wenn ein Mann eine Frau zur Mitte seines
Herzens macht, so folgt nicht notwendig daraus, dass dieser Mann sich gegenüber dem ›Göttlichen‹ affektiv neutralisiert vorfindet. Die göttliche Sonne kann ( weil viel tiefer) noch durch das weibliche Gestirn hindurch wahrgenommen werden. Sie kann - und dies sogar mit erhöhtem Glanz - auf der gleichen Ebene und darüber hinaus leuchten.« Wie schwierig das sein kann und zu welcher Herausforderung das für die Frau werden kann, kommt in dem bewegenden Briefwechsel zwischen Pierre Teilhard de Chardin und seiner Freundin Lucile Swan (vgl. Schiwy 2005) zum Ausdruck.
Solange jemand keine Liebe erfahren hat, er über keinen Nährboden verfügt, der empfänglich ist für die Nahrung von Gottes bedingungsloser Liebe, läuft er Gefahr, sich lediglich mit Spiritualität »vollzustopfen«, ohne dabei wirklich genährt zu werden. Er wird in seinem Leben die Erfahrung von echter Zufriedenheit oder Freude, ja Erfüllung, vermissen. Seine Spiritualität erreicht nicht sein Herz, seine Tiefe. Bei so manchen Hymnen auf die göttliche Liebe meine ich vor allem den Schrei nach der Erfahrung von Gottes Liebe und von menschlicher Liebe zu vernehmen, gerade weil diese Liebe nicht im eigenen Herzen und im konkreten Leben erfahren wird.
Auf der anderen Seite gibt es da die Menschen, die im spirituellen Bereich eher die leisen Töne bevorzugen und nur wenig - und wenn, dann sehr leise und bedächtig - von Gottes Liebe sprechen, weil sie Gott ganz tief in sich hineinwirken lassen und hineinnehmen können. Sie verfügen über einen Nährboden, der für die Liebe Gottes und die Liebe ihrer Mitmenschen empfänglich ist. Sie machen die Erfahrung,
lieben zu können und geliebt zu werden. Ihre Spiritualität befähigt sie, sich den Prozessen zu stellen, die erforderlich sind, um in eine innige Beziehung zu einem anderen Menschen treten zu können.
Von der ersten Liebe Gottes
ANSELM GRÜN: Für mich gibt es eine Wechselwirkung zwischen göttlicher und menschlicher Liebe. Die Erfahrung menschlicher Liebe erfüllt meine Gottesliebe. Umgekehrt spüre ich auch: Jede menschliche Liebe erfahre ich auch in ihrer Brüchigkeit. Da gibt es Missverständnisse, Verletzungen, Enttäuschungen. Statt darüber zu jammern, lasse ich mich davon in den Grund meiner Seele führen. Dort erlebe ich die Quelle der göttlichen Liebe. Diese Liebe ist zwar nicht so emotional wie die menschliche Liebe. Aber ich ahne, dass sie keine Brüchigkeit aufweist, dass auf sie Verlass ist, dass sie nie versiegt. Die Gewissheit, dass diese Quelle der göttlichen Liebe nie versiegt, ermutigt mich, mich trotz aller Enttäuschungen immer wieder auf die menschliche Liebe einzulassen. Und die menschliche Liebe erfüllt die göttliche Liebe immer wieder mit Emotion und Leidenschaft.
WUNIBALD MÜLLER: Mir gefällt in diesem Zusammenhang auch, was unser beider Freund Henri Nouwen (in: Müller/ Grün/Nouwen u.a. 2001, S. 249) in seiner Homilie anlässlich der Eröffnungsfeier des Recollectio-Hauses gesagt hat:
»Ich erfahre Heilung meiner Wunden, wenn ich auf die Stimme in meinem Herzen höre, die mir sagt: Du bist mein geliebter Sohn, du bist meine geliebte Tochter. Du bist
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