Wer Bist Du, Gott
Hermann Hesse bilden, der sich sehr viel mit dem christlichen Gott und auch den Gottesvorstellungen anderer Religionen befasst hat. Für ihn war das aber nie nur eine intellektuelle Auseinandersetzung, sondern immer auch Ausdruck seines Ringens mit der Frage: »Wer bist Du, Gott?«
Es gibt natürlich bloß einen Gott, bloß eine Wahrheit, die jedes Volk, jede Zeit, jeder Einzelne auf seine Art aufnimmt, für die immer neue Formen entstehen. Eine der schönsten und lautersten Formen ist gewiss die des Neuen Testaments, worunter ich allerdings eigentlich nur die Evangelien verstehe, weniger die Paulinischen Briefe. Ich halte einige Sprüche des Neuen Testaments, neben einigen von Lao-Tse und einigen von Buddha und den Upanishaden, für das Wahrste, Konzentrierteste, Lebendigste, was auf Erden erkannt und gesagt worden ist. Dennoch ist mir der christliche Weg zu Gott verbaut gewesen durch eine streng fromme Erziehung, durch die Lächerlichkeit und Zänkerei der Theologie, durch die Langeweile und gähnende Öde der Kirche, und so weiter.
Ich suchte also Gott auf anderen Wegen und fand bald den indischen, der mir von Hause aus nahelag, denn meine Vorfahren, Großvater, Vater und Mutter, hatten nahe und innige Beziehungen zu Indien, sprachen indische Sprachen etc. Später fand ich auch den chinesischen Weg durch Lao-Tse, was für mich das befreiendste Erlebnis war. Natürlich war ich daneben und zugleich nicht minder intensiv durch moderne Versuche und Probleme beschäftigt, durch Nietzsche, durch Tolstoi, durch Dostojewski, das Tiefste aber fand ich in den Upanishaden, bei Buddha, bei Konfuzius und Lao-Tse, und dann auch, als meine alte Aversion gegen die speziell christliche Form der Wahrheit allmählich nachließ, auch im Neuen Testament. Dennoch blieb ich dem indischen Weg treu, obwohl ich ihn nicht für besser als den christlichen halte. Ich tat es, weil mir die christliche Anmaßung, die Monopolisierung Gottes, das Alleinrechthabenwollen, das mit Paulus beginnt und durch die ganze christliche Theologie geht, zuwider war, und auch, weil die Inder weit bessere, praktischere, klügere und tiefere Formen des Wahrheitssuchens, mithilfe der Yogamethoden, wissen.
Damit ist Ihre Frage beantwortet. Ich halte indische Weisheit nicht für besser als christliche, ich empfinde sie nur als ein wenig spiritueller, etwas weniger intolerant, etwas weiter und freier. Das kommt davon her, dass die christliche Wahrheit mir in der Jugend in unzulänglichen Formen aufgedrängt wurde. Dem Inder Sundar Singh ging es genau umgekehrt: ihm wurde indische Lehre aufgedrängt, er fand dort in Indien die herrliche alte Religion entstellt und entartet, so wie ich hier die christliche, und er
wählte das Christentum, d.h. er wählte nicht, sondern er wurde einfach überzeugt, erfüllt und überwältigt vom Liebesgedanken Jesu, so wie ich vom Einheitsgedanken der Inder. Für andre Menschen führen andre Wege zu Gott, ins Zentrum der Welt.
Das Erlebnis selbst aber ist stets das Gleiche. Der Mensch, der die Wahrheit zu ahnen beginnt (auch in ihm kommt zuerst »alles durcheinander« wie bei Ihnen), der das Wesentliche des Lebens ahnt und ihm näherzukommen sucht, der erlebt, sei es nun in christlichem oder andrem Gewand, unfehlbar die Wirklichkeit Gottes, oder wenn Sie wollen des Lebens, von dem wir Teile sind, dem wir widerstreben oder dem wir uns hingeben können, ohne das aber der Erwachte nicht mehr leben kann und will.
Für stark intellektuelle Menschen bestehen diese Erlebnisse zum Teil in Gedanken, in Erkenntnissen, doch auch dies ist keine notwendige Form, es kann auch völlig ohne Denken und Erkennen vor sich gehen, indem einfach das Leben selbst uns so bildet, dass wir immer mehr das Vollkommene, Heilige und Ewige suchen und gegen die Werte und Wirklichkeiten der andern, sogenannt alltäglichen Welt immer gleichgültiger werden.
Hermann Hesse
Literatur
Thomas Assheuer: Im Herzen des Glaubens, in: Zeit-Literatur, Nr.12, März 2009
Benedikt XVI . : Deus caritas est, Augsburg 2006
Martin Buber: Ekstatische Konfessionen, Leipzig 1923
Martin Buber: Ich und Du, Heidelberg 1974
Martin Buber: Begegnung. Autobiographische Fragmente, Heidelberg 1978
Martin Buber: Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1985
Niklaus Brantschen in: Publik-Forum, Nr. 10, 2003
Pierre Teilhard de Chardin: Die Evolution der Keuschheit, in: Geist und Leben, Heft 4, Juli/August 1994
Heinrich Denzinger: Kompendium der Gaubensbekenntnisse und
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