Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer hat Angst vorm boesen Wolf

Wer hat Angst vorm boesen Wolf

Titel: Wer hat Angst vorm boesen Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
Vom Netzwerk:
trug ja nicht einmal ein Hemd! Er stand in der Bar des Park-Hotels, mit nacktem Oberkörper! Verzweifelt drehte er sich auf die Seite und zog die Bettdecke hoch. Dann öffnete er die Augen. Kniff sie im Tageslicht verwirrt wieder zu. Der Hund saß neben dem Bett und starrte ihn an. Es war sechs Uhr.
    Der Hund hatte große, blanke Augen, wie polierte Kastanien. Jetzt legte er auf hinreißende Weise den Kopf schräg. Sein schwerer Schwanz peitschte zweimal optimistisch. Sejer versuchte, seinen Traum abzuschütteln.
    »Du wirst langsam grau«, sagte er abrupt und starrte die Schnauze des Hundes an; das Fell, das sie umgab, hatte denselben Farbton angenommen wie seine eigenen Haare.
    »Brav zu Hause bleiben. Die Wohnung hüten!«
    Er hörte sich strenger an als beabsichtigt, so als wolle er seine Verlegenheit über den Traum verbergen. Er stieg aus dem Bett. Der Hund fiepte gekränkt und ließ sich auf den Boden sinken. Es klang, als habe jemand aus geringer Höhe einen Sack Kartoffeln fallen lassen. Der Hund schaute seinen Herrn verletzt an. Sejer staunte immer wieder über diesen herzzerreißenden Blick und begriff nicht, wie ein Tier von siebzig Kilo mit einem frikadellengroßen Gehirn solche Gefühle in ihm auslösen konnte.
    Er duschte mit gesenktem Blick, länger als sonst, demonstrativ den Rücken zur Tür gekehrt, wie um zu betonen, wer hier der Chef sei.
    Diese heißen Tage konnte er nicht leiden. Er zog leicht bewölktes, windstilles Wetter vor, vierzehn, fünfzehn Grad, August oder September, mit angenehm dunklen Abenden und Nächten.
    An diesem Morgen ließ er sich wirklich Zeit. Er las die Zeitung von Anfang bis Ende. Der Mord in Finnemarka machte Schlagzeilen und wurde auch in den Radionachrichten als erstes erwähnt. Und mit dieser Tragödie würde er sich in den kommenden Wochen beschäftigen. Er hörte ein Interview mit dem Kollegen Gurvin und frühstückte dabei. Danach ging er mit dem Hund spazieren. Stellte das Küchenfenster auf Kipp, ließ die Markisen herunter, überzeugte sich davon, daß der Reserveschlüssel in der Vase vor der Wohnungstür lag. Wenn er Überstunden machen mußte, ging eine freundliche Nachbarin
    mit dem Hund Gassi.
    Als er dann endlich zur Arbeit ging, war es schon acht Uhr. Noch immer war er mit seinem Traum beschäftigt. Eine Hand hatte seinen Herzmuskel gepackt und daran gerissen, es tat jetzt noch weh. Elise war nicht mehr bei ihm. Nein, sie war nicht nur nicht mehr bei ihm, sie war überhaupt nicht mehr. Und er trottete allein dahin, nun schon im neunten Jahr. Seine Beine bewegten sich sicher und rhythmisch, er wusch und kämmte sich, aß und arbeitete, das Leben gefiel ihm sogar ab und zu. Eigentlich gefiel das Leben ihm fast immer. Oder war es eine Übertreibung, das zu behaupten? Nur selten und für kurze Zeit überwältigte ihn dieses Gefühl der Ohnmacht, wie jetzt, nach diesem Traum. Es passierte, wenn er abends allein war und Musik hörte. Musik, die Elise gemocht hatte, die sie zusammen aufgelegt hatten. Eartha Kitt. Billie Holiday.
    Ein Strom von sommerlich gekleideten Menschen war in der Fußgängerzone unterwegs. Es war Freitag. Ein langes Wochenende stand bevor, und in allen Gesichtern malte sich der Traum davon, was dieses Wochenende bringen sollte. Sejer selbst hatte keine Pläne. Er wollte erst Mitte August Urlaub nehmen, und außerdem war der Ferienmonat Juli eine stille Zeit. Falls es nicht so heiß wurde, daß die Menschen vollständig die Fassung verloren. Die Hitzewelle dauerte bereits drei Wochen an, und schon jetzt, dreizehn Minuten nach acht, zeigte das Thermometer oben am Kaufhaus sechsundzwanzig Grad.
    Da die Wache am Rand der Innenstadt lag, kam er sich ein wenig vor wie jemand, der gegen den Strom schwimmt. Immer wieder mußte er im Gewimmel ausweichen oder beiseite treten, alle schienen in die Gegenrichtung zu streben. Zu Büros und Geschäften, die wie ein Ring um den großen Platz lagen. Er schaute zum wolkenlosen Himmel hinauf. Der Himmel hatte eine luftige, lichte Farbe, in der sein Blick sich verlor. Hinter dem dünnen Lichtschleier lauerte tiefe, kalte Finsternis. Warum mußte er plötzlich daran denken?
    Sejer sah rasch in einige Gesichter in der Menge. Für Zehntelsekunden fing er die Blicke dieser Menschen auf, dann schauten die anderen zu Boden. Vorher hatten sie einen großgewachsenen, sehnigen Mann mit langen Beinen gesehen. Auf eine entsprechende Frage hätten sie sicher geantwortet, daß dieser Mann vermutlich eine leitende

Weitere Kostenlose Bücher