Wer hat Angst vorm boesen Wolf
Stellung bekleidete. Gut, wenn auch ein wenig konservativ angezogen. Kittfarbene Hose, blaugraues Hemd, schmaler dunkelblauer Schlips mit einer nur aus der Nähe sichtbaren aufgestickten Kirsche.
In der Hand trug er einen schwarzen Aktenkoffer mit einem Messingschloß, in den Deckel waren die Buchstaben KS eingestanzt. Seine Schuhe waren grau und blankgeputzt. Seine Augen schauten forschend drein und wirkten unter den silbrigen Haaren überraschend dunkel. Aber vieles war ihm eben nicht anzusehen. Er war im schönen Dänemark geboren und aufgewachsen, und der Tag seiner Geburt hatte ihm und seiner Mutter große Mühen bereitet. Noch immer, fünfzig Jahre später, war unter seinem Haaransatz der Abdruck der Zange zu erkennen. Oft kratzte er sich da, wie aus einer schwachen Erinnerung heraus. Die Menschen, die ihm begegneten, konnten auch nicht sehen, daß sich unter dem gebügelten Hemd einzelne verschorfte Hautstellen befanden. Daß er an Schuppenflechte litt. An einer Unruhe im Leib, die kam und ging. Tief in seinem privaten Universum hatte er einen wunden Punkt. Er hatte seine Trauer um Elise nie ausgelebt, sie war gewachsen und gewachsen und dann zu einem schwarzen Loch implodiert, in das er bisweilen hineingezogen wurde.
Jetzt sah er die Menschenmenge wieder deutlich. Und aus dem Gewimmel von luftig, hell und sommerlich gekleideten Menschen hob eine Gestalt sich ab. Ein Mann von Anfang Zwanzig kam ihm entgegen, mit raschen Schritten ging er dicht an den Mauern entlang. Trotz der Hitze war er warm angezogen, er trug eine schwarze Hose und einen dunklen Pullover. An den Füßen hatte er braune Schnürschuhe und um den Hals ausgerechnet einen schwarzen Schal mit Rippenmuster. Aber es war nicht in erster Linie seine Kleidung, die ihn so anders aussehen ließ als die übrigen Menschen auf der geschäftigen Straße. Nicht für eine Sekunde hob er den Kopf, um sich umzusehen. Sein energischer, rascher Gang und gerade die Tatsache, daß er nicht aufblickte, sondern konsequent den Asphalt anstarrte, ließen die anderen automatisch ausweichen und ihm Platz machen. Sejer entdeckte den Mann, als dieser noch fünfzehn oder zwanzig Meter von ihm entfernt war. Der rasche Gang, die verbissene Haltung der ganzen Gestalt und auch die unpassende Kleidung lösten bei dem Hauptkommissar eine Erinnerung aus. Der lockere Wollschal war sehr lang, der Mann hatte ihn sich mehrmals um den Hals gewickelt. Sejer war gerade an der Fokusbank vorbeigegangen und hatte das leise Klicken des elektrischen Schlosses gehört, das verriet, daß die Bank nun geöffnet war. Der Schal könnte auch eine Mütze sein, mit einem einzigen Handgriff über den Kopf zu ziehen, eine Mütze, die nur einen Spalt für die Augen freiließ. Über der Schulter trug der Mann eine Tasche. Und nicht nur das: Die Tasche stand offen, die rechte Hand des Mannes war in ihr versteckt. Die Linke hatte er in der Hosentasche. Falls er Handschuhe trug, so waren sie nicht zu sehen.
Sejer ging weiter. Sekunden später war der Mann nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Einem Impuls folgend drückte Sejer sich wie der andere an die Wand und starrte ebenfalls den Asphalt an. Er beschloß, so weiterzugehen, er wollte wissen, ob der Mann ihm ausweichen oder ob sie zusammenstoßen würden. Er amüsierte sich ein wenig über diese Gedanken und dachte plötzlich, daß er sicher schon zu lange bei der Polizei sei. Doch zugleich beunruhigte ihn etwas an der Gestalt des anderen. Er steigerte sein Tempo und ahnte die dunkle Gestalt eher, als daß er sie vor sich sah. Und wie er erwartet hatte, kam es durchaus nicht zu einem Zusammenstoß. Der andere trat zur Seite und lief an ihm vorbei. Also war er doch nicht ganz und gar in Gedanken versunken. Er achtete auf seine Umgebung. Vielleicht hatte er den Kopf gesenkt, damit niemand sein Gesicht sah und sich später daran erinnerte. Aber Sejer konnte sich daran erinnern. Ein breites, fleischiges Gesicht mit rundem Kinn und hellen Locken. Gerade Augenbrauen. Kurze, breite Nase.
Dann lag die Begegnung hinter ihnen. Der Mann drückte sich wieder an die Mauern und ging noch schneller. Sejer schaute ihm aus zusammengekniffenen Augen nach und spürte ein Prickeln im Nacken, als der andere in der Fokusbank verschwand. Es waren vielleicht dreißig Sekunden vergangen, seit Sejer das Klicken des Schlosses gehört hatte. In Gedanken wanderte er durch die Filiale. Er hatte dort sein Gehaltskonto. Die Kunden mußten zunächst die Glastür und danach eine
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