Wer hat Angst vorm boesen Wolf
kurzen Haare. Ab und zu erteilte er einen Befehl oder stellte eine Frage, alles mit der Autorität, die sich ganz natürlich aus einer beeindruckend tiefen Stimme und einer Größe von fast zwei Metern ergab. Gurvin schaute in dem Moment auf, als Halldis’ Leichnam im gummierten Leichensack verschwand. Danach war nur noch das Haus, mit seinen offenen Fenstern und Türen. Es würde wohl verkauft werden, wahrscheinlich an irgendeinen Trottel aus der Stadt, der schon länger von einer Kate im Wald träumte. Vielleicht würde es hier oben dann endlich Kinder geben, die eine Schaukel und einen Sandkasten brauchten. Buntes Plastikspielzeug würde auf dem Rasen herumliegen. Junge, schockierend leicht bekleidete Menschen. Vielleicht war es gut, daß Halldis das nicht erleben mußte. Es wäre schön, wenn es so kommen würde, dachte Gurvin. Aber in seinem Innern saß doch ein bohrendes Gefühl, das er nicht
vertreiben konnte.
5. JULI, UNVERÄNDERT HEISS.
Hauptkommissar Konrad Sejer folgte einem Impuls. Er bog ab und schlenderte in die Bar des Park-Hotels. Er war ansonsten kein Kneipengänger. Bei genauerem Nachdenken ergab es sich, daß er seit Elises Tod in keiner Bar mehr gewesen war. Diese Entscheidung erschien ihm jetzt als vernünftig. Im Lokal war es angenehm dunkel und um einiges kühler als auf der Straße. Die dicken Teppiche dämpften seine Schritte, und ohne das gleißende Sonnenlicht konnte er auch die Augen ganz öffnen.
Die Bar war fast leer, nur am Tresen saß eine einzelne Frau. Sie fiel sofort auf, weil sie allein war und weil sie ein rotes Kleid trug. Er sah ihr Profil. Sie durchsuchte offenbar gerade ihre Handtasche. Das Kleid war wirklich schön. Weich, eng, mohnrot. Sie hatte blonde, sanft über die Ohren fallende Haare. Plötzlich schaute sie hoch und lächelte. Sie kam ihm sonderbar bekannt vor. Sie hatte Ähnlichkeit mit der jungen Kollegin auf der Wache, an deren Namen er sich nie erinnern konnte. Vor ihr auf dem Tresen stand kein Glas, offenbar hatte sie noch keine Gelegenheit gehabt, etwas zu bestellen. Vielleicht suchte sie ja gerade ihr Geld.
»Hallo«, sagte er und ging langsam auf sie zu. »Heiß heute. Möchtest du etwas trinken?«
Das war einfach so aus ihm herausgerutscht. Er lehnte sich an den Tresen, ein wenig überrascht von seiner eigenen Kühnheit. Vielleicht war die Hitze daran schuld. Oder das Alter, das ihn bisweilen für einen Moment belasten konnte. Er war jetzt fünfzig, und der Weg führte abwärts in eine geheimnisvolle Dunkelheit.
Doch sie nickte und lächelte. Er konnte in ihren Ausschnitt blicken. Die Brüste unter dem roten Stoff verschlugen ihm den Atem. Und ihr Schlüsselbein, gerade und dünn, das sich unter der Haut abzeichnete. Er war plötzlich verlegen. Er hatte ja gar nicht die junge Kollegin vor sich, sondern Astrid Brenningen, die auf der Wache in der Rezeption saß. Wie hatte er nur so dumm sein können! Diese Frau hier war doch zwanzig Jahre älter als die Kollegin und hatte nicht die geringste Ahnlichkeit mit ihr. Sicher war das trübe Licht an diesem Irrtum schuld.
»Einen Campari bitte.« Sein Gegenüber lächelte neckisch, und er suchte in seiner Gesäßtasche nach Geld, während er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Er war nicht darauf gefaßt gewesen, ihr hier zu begegnen, so ganz allein. Aber um Himmels willen, warum sollte Astrid nicht in eine Bar gehen, um etwas zu trinken, und warum sollte er sie nicht dazu einladen? Sie war doch fast eine Kollegin. Sie sprachen zwar nie miteinander, aber das lag nur daran, daß er einfach keine Zeit hatte, um an ihrem Rezeptionstresen stehenzubleiben. In der Regel war er zu irgendeinem Termin unterwegs, der wichtiger war als ein Flirt an der Rezeption. Außerdem flirtete er nie, deshalb wußte er nicht, was plötzlich in ihn gefahren war.
Sie nippte elegant an ihrem Campari und lächelte auf eine seltsam vertraute Weise. Er spürte ein Prickeln im Nacken. Er mußte sich noch fester an den Tresen lehnen, um nicht zu stürzen. Seine Knie gaben nach, sein Herz rutschte nach unten und schlug wie besessen. Es war ja gar nicht Astrid Brenningen, sondern Elise!
Ihm brach der Schweiß aus. Er konnte es nicht fassen, daß sie plötzlich da saß, einfach so, nach all den Jahren, daß sie lächelte, als sei nichts passiert.
»Wo warst du die ganze Zeit?« stammelte er und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Da sah er seinen nackten Unterarm. Wieder fühlte er eine Ohnmacht nahen. Er
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