Wer morgens lacht
sie auf den Tisch gelegt hat, es ist das alte Foto von uns dreien, von Omi, Marie und mir, und ich frage mich, ob ihr außer dem Kropf und den rheumatisch verdickten Fingerknöcheln noch mehr auffällt, ob sie auch auf Fotos die Gesichter hinter den Gesichtern erkennt, ich halte es für möglich.
Ich habe unter ihr gelitten, sagt meine Mutter und streckt die Hand nach dem Foto aus, sie hat mir meine ganze Kindheit und Jugend verdorben, es war nicht leicht mit ihr, auch später nicht, aber was hätte ich tun können, sie hatte ja nur mich.
Es gibt mir einen Stich, so soll sie nicht über ihre Mutter sprechen, das will ich nicht, am liebsten würde ich aufspringen und ihr das Bild aus der Hand reißen. Warum? Keine Ahnung, vielleicht ist es ja mein privates Problem, dass ich noch immer an Omi hänge und einfach nicht loslassen kann, und dann fällt mir ein, dass ich auch früher manchmal das Gefühl hatte, sie verteidigen zu müssen, gegen Marie, gegen meinen Vater und vor allem gegen meine Mutter, und zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass ich sie in Wirklichkeit vielleicht gegen mich selbst verteidigt habe.
Warum sagst du so etwas, so schlimm war sie doch gar nicht, protestiere ich schwach.
Meine Mutter schaut mich an, ich schaue meine Mutter an. Es ist wie ein Kampf, ein wortloser Kampf, und plötzlich wünschte ich mir, meine Haare wären wieder knallrot, dann würde ich mich stärker fühlen. Wir starren uns an und keine gibt nach. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, auch wenn das Ganze höchstens ein paar Sekunden dauert.
Nein, sagte meine Mutter dann, so schlimm war sie nicht, sie war sogar ein guter Mensch, aber sie war unglücklich, das Leben konnte es ihr nicht recht machen, ich konnte es ihr nicht recht machen. Ich war als Kind Bettnässerin, bis zum Alter von acht oder neun Jahren, glaubst du, sie hat mich auch nur ein Mal getröstet, wenn ich aus lauter Verzweiflung, weil es mir wieder passiert war, geweint habe? Da hieß es immer, du hast schon wieder ins Bett gesaicht, man muss sich ja schämen, wenn man das Laken zum Trocknen raushängt. Sie hätte mich doch auch mal unterstützen können, ich konnte doch nichts dafür, ich habe es doch nicht mit Absicht getan.
Das wusste ich nicht, sage ich, und wieder schaut sie mich direkt an und sagt, du hast so viel nicht gewusst.
Mein Vater gießt ihr Wein nach und streicht ihr dabei unbeholfen über die Haare, sie lässt es sich nicht nur gefallen, sondern berührt sogar flüchtig seine Hand, dann spricht sie weiter, schnell, als hätte sie lange auf diese Gelegenheit gewartet, es ist, als wäre eine Tür in ihrem Inneren aufgegangen, die Tür zu einer geheimen Kinderwelt, die sie noch nie geöffnet hatte, zumindest mir gegenüber nicht, aber mein Vater sieht nicht überrascht aus.
Sie hatte schreckliche Angst vor den Nachbarn, fährt sie fort, sie hatte Angst vor allem und jedem, ständig hat sie mich gewarnt, die Welt ist böse, du musst dich vor ihr hüten, du darfst nichts Falsches sagen, du kannst dich auf niemanden verlassen, die Bayern hassen alle Flüchtlinge, sie nennen sie Hurerflüchtlinge . Ich selbst habe das nie gehört, zu mir hat es keiner gesagt, aber sie hat es immer behauptet. Und dieses ständige Gerede, wie es daheim war, in Vierzighuben, damit hat sie erreicht, dass ich hier genauso wenig zu Hause war wie sie, für ihr Gefühl war sie, denke ich, der unschuldige Sündenbock für die Verbrechen des ganzen deutschen Volkes, und wenn irgendjemand etwas über Konzentrationslager und das Leid sagte, das die Deutschen verursacht haben, fing sie immer sofort von der Vertreibung und von den Tschechen an, was die den Deutschen nach dem Krieg angetan haben, sie konnte Ursache und Wirkung nicht auseinanderhalten.
Man konnte nicht mit ihr diskutieren, sagt mein Vater, sie war so stur in ihren Ansichten.
Sie war borniert, sagt meine Mutter, auch wenn man so etwas nicht über die eigene Mutter sagen sollte, und sie hat mich in alles hineingezogen. Als ich klein war, sind Mönche aus dem Kapuzinerkloster von Zwittau durch Bayern gereist und haben ihre verstreuten Schäfchen besucht, und als einmal welche zu uns kamen und sich mit ihr in dieser seltsamen Sprache unterhalten haben, von der ich nicht alles verstand, wurde mir plötzlich klar, dass es dieses Paradies Dahaam wirklich gegeben haben musste, und da fing auch ich an, dem verlorenen Märchenland nachzutrauern, und war auf einmal so heimatlos wie sie. Und genauso traurig.
Märchenland
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