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Wer nichts hat, kann alles geben

Wer nichts hat, kann alles geben

Titel: Wer nichts hat, kann alles geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Rabeder
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trotzdem Anschluss finden. Sie hatte sich das alles so herzig vorgestellt: Wir würden alle gemeinsam einen herrlichen Nachmittag zusammen verbringen, mit meinen Spielsachen spielen und uns am Abend vor Freude in den Armen liegen, weil es so nett gewesen war. Also schmierte sie Brote und stellte Säfte bereit. Kurz bevor die Gäste eintrafen, hatte sie einen hübschen Partyparcours eingerichtet, mit der Verpflegungsstation in der einen Ecke und einer Spielstation in der anderen. Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war. Ich würde die ganze Zeit im Mittelpunkt stehen – das war mir sehr unheimlich. Keine zwei Stunden später sah unser Haus aus wie eine Wiese, über die eine Kuhherde getrampelt war.

    Dass der gut gemeinte Einfall meiner Mutter nicht aufgehen würde, war schon wenige Minuten nach Eintreffen der geladenen Kinder offensichtlich. Wie die Hunnen machten sie sich über das Buffet her. Als alles leer gefuttert war, knöpften sie sich meine Spielsachen vor. Von mir nahm niemand groß Notiz. Als jeder Knopf gedrückt, jede Klappe bewegt und jedes Rad gedreht war, verloren sie schlagartig jegliches Interesse an meinem Geburtstag. Es war meinen Gästen einzig und allein darum gegangen, sich selbst zu vergnügen, und als es nichts mehr gab, womit sie sich hätten weiter vergnügen können, wollten sie nach Hause.
    Sie benahmen sich wie Kinder, die sich so lange über Weihnachten freuen, solange man Geschenke aufreißen kann, und dann, wenn das letzte Geschenkpapier zerknüllt in der Ecke liegt, sagen: »Schade, jetzt ist Weihnachten schon wieder vorbei.« Wenn man so will, war das meine erste Erfahrung mit der Konsumgesellschaft, die nichts anderes im Sinn hat, als das zu verbrauchen, was man ihr vorsetzt. Dass sie doch eigentlich nicht wegen der Brote und Säfte eingeladen waren, sondern wegen meines Geburtstags, war dieser Horde völlig egal, sie hatten keinerlei Bedürfnis nach Kontakt mit mir verspürt. So weit habe ich damals natürlich noch nicht gedacht. Woran ich mich aber erinnern kann, ist, wie unglücklich ich anschließend inmitten des Chaos’ saß. Danach hatte ich nur einen Geburtstagswunsch: nie mehr Geburtstag haben zu müssen.
    Mit zunehmendem Alter spürte ich immer deutlicher, dass ich noch keinen rechten Platz in der Welt
hatte. Zu Hause fehlte es mir zwar an nichts, meine Wünsche waren ja meist schon erfüllt, kaum hatten sie meine Lippen verlassen. Aber auch das konnte nichts daran ändern, dass ich mir oft etwas verloren vorkam. Wenn ich in meinem Zimmer saß, hörte ich manchmal die anderen Kinder, die unten auf der Straße gemeinsam Fußball spielten oder Rad fuhren, und so wenig ich mich an dem beteiligen wollte, was sie taten, so wenig fand ich mich in meinem eigenen Leben zurecht.
    Umso wohler fühlte ich mich in der Welt, die ich mir in meiner Fantasie erschloss. Dort konnte ich genau der sein, der ich sein wollte, vor allem aber genau dort, wo ich sein wollte. In meinen Träumen fand ich einen Ort, an dem ich mich besonders wohlfühlte, einen Ort, den ich wirklich als meine Heimat bezeichnen konnte, der für mich so natürlich war, als wäre ich immer schon dort gewesen: die Luft.
    In meiner Fantasie stellte ich mich aufs Fensterbrett und flog davon. Ganz sanft glitt ich mit eng anliegenden Armen durch die Luft. Wenn ich steigen wollte, musste ich nur einen Schlag mit meinen Beinen machen und stieg mühelos nach oben, wie ein Delfin im Wasser. Ich schwebte über die Dächer von Leonding und sah die Menschen weit unter mir, die wie kleine Ameisen durch die Straßen liefen. Solche Träume hatte ich nachts wie tagsüber, wenn ich schlief genauso wie im wachen Zustand. Um ein Haar wäre ich aus einem solchen Traum gewaltsamer herausgerissen worden, als es mir gutgetan hätte.

    Es war ein sonniger Nachmittag, als ich in meiner Fantasie zum Fenster ging und wie gewohnt auf die Fensterbank stieg – als Tagtraumflieger hatte ich ja schon eine gewisse Routine. Doch auf einmal bemerkte ich, dass bei diesem Mal etwas anders war. Ich spürte, wie mir ein Lufthauch ins Gesicht wehte, ganz leicht zwar, aber deutlich wahrnehmbar. Den hatte es in meinen Träumen sonst nie gegeben. Dann sah ich nach unten und dachte mir: »Komisch, das sieht heute viel bedrohlicher aus als sonst.« Kurz darauf erwachte ich aus meinem Tagtraum und sah, dass ich tatsächlich drauf und dran war, aus dem Fenster zu fallen. Ich saß auf der Fensterbank wie auf einem Pferdesattel, ein Bein baumelte bereits im Freien.

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