Wer nichts hat, kann alles geben
ermöglichen, es war so gut wie alles erlaubt und nichts verboten. Doch im Bemühen, mir jeden Mangel vom Leib zu halten, sorgte
sie, ohne es zu wollen, dafür, dass es mir irgendwann an etwas Wichtigem mangelte, was ein Heranwachsender braucht: eigene Grenzen zu ziehen und die anderer wahrzunehmen und wertzuschätzen.
Als ich sieben Jahre alt war, sah im Hause Rabeder – nach der Scheidung von meinem Vater hatte auch meine Mutter diesen Namen wieder angenommen – ein typischer Morgen so aus: Mama fuhr in der Früh zur Arbeit, mein Großvater machte sich mit seinem Kurierfahrzeug auf den Weg, und meine Großmutter begann mit der Arbeit im Garten. Kurz darauf marschierte ich gemeinsam mit Franzi und seiner Schwester Heidi, zwei Kindern aus unserer Nachbarschaft, in die Volksschule.
Zwischen unseren Häusern und der Schule lag ein knapper Kilometer Fußweg. Wir gaben ein Bild ab wie in einem Heimatfilm in Technicolor: Der Franzi und ich trugen Hemden und Wollpullis, Hosen bis knapp über die Knie sowie Strümpfe und Sandalen aus Leder, die Heidi ein langes Kleid. Und alle drei hatten wir je einen Lederranzen mit schmalen Riemen auf dem Rücken.
Ich war ein guter, allerdings auch sehr ruhiger Schüler. Ob ich während des Unterrichts im Klassenzimmer war oder nicht, fiel meistens nicht weiter auf. Ich saß also auf meinem Platz und träumte davon, durch die Luft zu fliegen, gelegentlich auch mit geschlossenen Augen. Bei einem Elternsprechtag sagte die Klassenlehrerin Frau Kotbauer, eine ganz entzückende Person, in die ich heimlich verliebt war, meiner Mutter:
»Karl müsste nur den Mund aufmachen, er weiß ja eigentlich alles. Doch meistens sitzt er da und sagt kein Wort.« Meine Mutter unternahm anschließend keinerlei Versuche, mich zu einer regeren Teilnahme am Unterricht zu überreden. Ich dachte mir: Es gibt doch genug andere, die den Mund aufmachen. Dass viele von ihnen nichts sagten, weil sie die Antworten auf die Fragen der Lehrerin nicht wussten, ahnte ich noch nicht. Und schwieg weiter.
Ohne es zu wollen, geschweige denn etwas dafür getan zu haben, zog ich die Bewunderung der gertenschlanken, groß gewachsenen Christa auf mich, eines Mädchens aus der Nachbarschaft, das sich in mich verschossen hatte. Mit wie viel Hartnäckigkeit sie mir ihre Aufmerksamkeit zu schenken versuchte, nötigt mir heute großen Respekt ab. Denn vier Jahre lang versuchte ich, mich ihr so gut wie möglich zu entziehen. Ich, der scheue Bub und Tagträumer, hatte nicht das Gefühl, viel wert zu sein, und konnte deshalb nicht damit umgehen, dass mir jemand einen Wert beimaß, den ich selbst bei mir nicht erkennen konnte.
Eines Tages sollten wir zum Beispiel ein Ölkreidebild malen, das anschließend von der Lehrerin kunstvoll zerschnitten wurde, um daraus einen Lampion zu basteln. Doch so zufrieden ich mit meinem Bild auch war: Die Lehrerin hatte sich leider verschnitten, der Lampion zerfiel in zwei Teile. Christa schenkte mir daraufhin ein Bild, das sie extra für mich gemalt hatte. Aus dem machte die Lehrerin anschließend einen zweiten Lampion. Doch ich verschmähte ihn und erklärte,
er sei viel hässlicher als meiner, wenn ihn die Lehrerin nicht zerstört hätte. In Wahrheit war mir diese Geste hochpeinlich: Dass sich ein Mädchen so sehr für mich interessierte, dass es mir etwas zu schenken bereit war, dessen Anfertigung viele Stunden gedauert hatte – das war zu viel für mich.
Trotz meines beharrlichen Schweigens waren meine Noten am Ende der Volksschulzeit gut genug, um aufs Gymnasium zu wechseln. Mein Ziel war das Abitur oder, wie es in Österreich heißt, die Matura. Von Haus aus hatte ich eigentlich einen großen Ehrgeiz, von meiner Großmutter hatte ich ja gelernt, dass nur aus dem etwas wird, der auch etwas leistet. Doch die Lehrer der neuen Schule machten es uns nicht gerade einfach, dort Fuß zu fassen. Meine Mutter hatte für mich ausgerechnet das Gymnasium ausgesucht, das in ganz Linz als die beste, aber auch als die strengste Schule galt, auf diesen Ruf waren die Lehrer offenbar sehr stolz. Von Beginn an ließen sie keinen Zweifel daran, dass für uns das beschauliche Leben nun vorbei war: »Ihr habt vier ruhige Jahre hinter euch«, hieß es zur Begrüßung, »stellt euch am besten gleich darauf ein, dass hier alles anders laufen wird.« – »Wunderbar«, dachte ich mir, »da macht das Lernen ja gleich doppelt so viel Spaß.«
In mir baute sich von Anfang an eine starke Protesthaltung auf, auch weil die
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