Ein Blatt Liebe
Kapitel 1
Die Nachtlampe brannte auf dem Kamin hinter einem Buche, dessen
Schatten eine Hälfte des Zimmers zudeckte. Es war ein mildes Licht,
das die dicken Falten der Plüschvorhänge badete und die
Spiegelscheiben des zwischen den beiden Fenstern aufgestellten
Mahagonisilberschrankes bläute. Die bürgerliche Harmonie des
Zimmers, dieses Blau der Vorhänge, der Möbel und des Teppichs nahm
um diese Stunde eine unbestimmte Milde an. Und den Fenstern
gegenüber bildete neben dem Schatten das ebenfalls mit Plüsch
verhangene Bett eine dunkle Masse, nur von der Blässe der
Bettdecken aufgehellt. Helene, die gekreuzten Hände in der ruhigen
Haltung der Mutter und Witwe übereinandergelegt, atmete leicht
auf.
Inmitten der Stille schlug die Pendüle eins. Die Geräusche des
Stadtviertels waren erstorben. Hier auf diese Anhöhen des Trocadero
sandte Paris bloß sein fernes Schnarchen. Helenes leiser Atemzug
war so sanft, daß er die keusche Linie ihres Busens nicht hob. Sie
genoß einen schönen, ruhigen und kräftigenden Schlaf. Ihr edles
Profil umrahmte das zu mächtigen Flechten aufgesteckte
kastanienbraune Haar; der Kopf lag leicht zur Seite geneigt, als ob
sie lauschend entschlummert sei. In der Tiefe des Zimmers öffnete
sich die Türe einer großen Kammer.
Kein Geräusch wurde laut. Es schlug halb. Der Pendel hatte in
dieser das ganze Gemach beherrschenden Stille einen gedämpften Schlag. Die Nachtlampe schlummerte,
die Möbel schlummerten und auf einem Schränkchen schlummerte neben
einer verlöschten Lampe die Handarbeit. Helene behielt im Schlafe
ihre ernsten und freundlichen Züge.
Als es zwei Uhr schlug, wurde dieser Friede gestört. Ein Seufzer
kam aus der Finsternis der Kammer. Dann hörte man ein Knistern von
Leinwand, und wieder trat Stille ein. Jetzt ein beklommener
Atemzug. Helene hatte sich nicht gerührt. Plötzlich sprang sie
empor. Ein wirres Kinderstammeln hatte sie geweckt. Sie fuhr mit
der Hand nach den Schläfen; noch schlafumfangen, als ein dumpfer
Aufschrei sie aus dem Bette jagte.
»Jeanne! Jeanne! Was ist dir? Antworte doch!« Und als das Kind
schwieg, murmelte sie, im Laufen die Nachtlampe fassend:
»Ach Gott! sie war nicht recht munter; ich hätte mich nicht
niederlegen sollen.«
Sie trat rasch in das anstoßende Gemach, wo wieder dumpfes
Schweigen herrschte. Die ölgefüllte Nachtlampe aber warf einen
zitternden Lichtschein, der an die Zimmerdecke einen runden Fleck
zeichnete. Helene konnte, über die eiserne Bettstelle gebeugt,
zuerst nichts unterscheiden. Dann sah sie in dem bläulichen
Lichtschein, mitten unter zurückgeworfenen Bettüchern und Decken,
Jeanne ausgestreckt, mit zurückgeworfenem Kopfe, starren und harten
Halsmuskeln. Ein Krampf entstellte das liebenswürdige Gesichtchen,
die Augen waren geöffnet und starrten auf den Rand der
Vorhänge.
»Ach Gott! ach Gott!« rief Helene, »sie stirbt!« Und die
Nachtlampe hinstellend, betastete sie ihr Kind mit zitternden
Händen. Sie konnte den Puls nicht finden. Das Herz schien stillzustehen. Die kleinen Arme, die
Beinchen spannten sich gewaltsam. Dann packte Helene die Angst, und
wie besessen schrie sie auf:
»Mein Kind stirbt! Hilfe! Mein Kind! mein Kind!«
Sie kehrte in das Zimmer zurück, ohne zu wissen, wohin sie ging.
Dann trat sie wieder in die Kammer und warf sich von neuem am Bette
nieder, noch immer um Hilfe rufend. Sie hatte Jeanne mit den Armen
gefaßt, küßte ihr Haar, tastete mit den Händen an ihrem Körper hin
und flehte um eine Antwort, um einen Laut. Ein Wort, ein einziges
Wort. Wo tat's weh? Verlangte sie noch ein bißchen Suppe von
gestern? Ob ihr am Ende die Luft wieder zum Leben verhülfe? Und
hartnäckig blieb sie dabei, einen Laut aus dem Munde des Kindes zu
hören.
»Sage mir, Jeanne! sag mir doch ein Wort! Ich bitte dich!«
Und dabei nicht wissen, was anfangen! Und alles so gänzlich
unerwartet mitten in der Nacht. Nicht einmal Licht. Helenes
Gedanken verwirrten sich. Sie fuhr fort, zu ihrem Kinde zu
plaudern. Im Magen mußte die Ursache dieses Anfalls sitzen; nein,
im Schlund… Es würde nichts auf sich haben. Ruhe war nötig. Und sie
machte eine gewaltsame Anstrengung, ihren Verstand beisammen zu
halten. Aber die Empfindung, ihr Kind steif und starr in den Armen
zu haben, schnürte ihr die Brust zu. Sie schaute es an, wie es so
krampfverzerrt ohne Atem dalag, und versuchte zu überlegen.
Plötzlich schrie sie auf, ohne es zu wollen.
Sie lief durch die Eßstube und die
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