Wer nie die Wahrheit sagt
verehren, um vielleicht ein wenig von ihrem Talent in uns aufzunehmen, nur einen Hauch. Einige dieser alten Freunde wurden tatsächlich groß; wieder andere kehrten in ihre Heimat zurück, um Möbelschreiner zu werden oder in einem Postamt Briefmarken zu stempeln. Ach, aber Sarah Jameson, sie war die größte von allen! Die Stein hat bis zu ihrem Tod kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihr korrespondiert.«
»Wie gut kannten Sie meine Großmutter, Mr. Jorgenson?«
Olaf Jorgensons leise Stimme war voller Kummer und alter Erinnerungen, die jedoch nichts von ihrem Schmerz, von ihrer Lebendigkeit verloren hatten. »Sarah war ein wenig älter als ich, aber so schön, so unglaublich talentiert, so ungehemmt, so heiß und wild wie ein Schirokko aus der libyschen Wüste. Sie liebte Wodka und Opium, beides so pur wie möglich. Das erste Mal, als ich sie sah, malte ein anderer junger Künstler, ihr Geliebter, gerade einen Akt von ihr und bedeckte ihn überall mit ejakulierenden Phalli.
Sie war alles, was ich mir je gewünscht habe, alles, was ich wollte, und ich liebte sie abgöttisch. Aber dann lernte sie einen Mann kennen, einen verdammten Amerikaner, der lediglich auf Besuch in Paris war, ein Geschäftsmann in einem lächerlichen hellgrauen Flanellanzug, aber sie wollte ihn mehr als mich. Sie verließ mich, kehrte mit ihm in die Vereinigten Staaten zurück.«
»Das war mein Großvater, Emerson Elliott. Sie heiratete ihn Mitte der Dreißiger, in New York.«
»Ja, sie verließ mich. Und ich sah sie nie wieder. Ich begann dann in den Fünfzigern ihre Bilder zu sammeln. Eine Zeit lang war es kaum bekannt, dass sie ihren Enkeln einige Gemälde vererbt hatte, es war eine Privatangelegenheit. Ja, sie hat jedem Kind acht wunderschöne Gemälde vermacht. Ich wusste, dass ich alle für meine Sammlung haben musste. Sie sind die Erste; unglücklicherweise gelang es uns jedoch nur vier Originale in die Hände zu bekommen, bevor die Frasiers zu befürchten begannen, Sie würden ihren Sohn verlassen, trotz der Medikamente, die sie Ihnen einflößten. Sie wussten, dass Sie Ihre Bilder wieder mitnehmen würden, daher beschlossen sie, Sie zu töten, ganz besonders deshalb, da ja Ihr Mann nach dem Tod Ihrer Tochter der Alleinerbe der Bilder war.«
»Aber ich bin nicht gestorben.«
»Nein, sind Sie nicht, aber an diesbezüglichen Versuchen hat es nicht gemangelt.«
»Wollen Sie mir sagen, mein Mann hatte mit dieser Verschwörung gar nichts zu tun?«
»Nein, Tennyson Frasier war nur ihr Werkzeug. Die großen Hoffnungen, die seine Eltern auf ihn setzten, waren zerplatzt, aber immerhin schaffte er es, Sie zur Frau zu nehmen. Möglich, dass er sich sogar in Sie verliebte, genug zumindest, um Sie zu heiraten, wie es seine Eltern wünschten.«
Und sie war so sicher gewesen, dass Tennyson mit ihnen unter eine Decke steckte. Sie fragte: »Warum haben Sie mir nicht einfach Geld angeboten?«
»Ich wusste, dass Sie mich zurückweisen würden, ebenso wie Ihre Geschwister. Sie waren am verwundbarsten, besonders nach Ihrer Scheidung von Jack Crane, also wählte ich Sie.«
»Das ist doch verrückt. Sie erfinden diesen ganzen Plan, bloß um mir die Bilder meiner Großmutter abzunehmen?«
»Sarahs Bilder stehen mir zu, denn ich bin der Einzige, der sie, weit über ihre visuelle Botschaft und Aussagekraft hinausgehend, zu schätzen weiß, denn ich kannte sie, wissen Sie, ich kannte sie bis auf den Grund ihrer Seele. Sie sprach mit mir über ihre Werke, was jedes einzelne für sie bedeutete, was sie dachte, als sie jedes einzelne malte. Ich versorgte sie mit Opium, und wir unterhielten uns stundenlang. Nie wurde ich müde, ihr beim Malen zuzusehen, ihrer Stimme zu lauschen. Sie war die einzige Frau, die ich je wollte, die einzige.« Er schwieg einen Moment, runzelte die Stirn, und sie sah einen Ausdruck tiefen Schmerzes in seinen faltigen Zügen. Weil er ihre Großmutter vermisste oder wegen seiner Krankheit?
Mit forscherer Stimme sagte er dann: »Ja, Lily, ich habe Sie gewählt, weil Sie die Verwundbarste waren, die am leichtesten Manipulierbare. Und das Wichtigste, Sie waren allein. Als Sie nach Hemlock Bay zogen, schickte ich Ian, um Kontakt mit den Frasiers aufzunehmen. Erzähle es ihnen, Ian.«
»Ich habe den Kuppler gespielt«, sagte Ian Jorgenson und lachte. »Es war höchst befriedigend, als sich alles wie geplant fügte. Ich habe die Frasiers einfach gekauft – das war’s. Sie haben Tennyson geheiratet, und seine Eltern haben ihm
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