Werke
Ich begriff, warum er diesen Saal bei Abendgewittern aufsucht. Durch die hellen Fenster schaut der ganze südliche Himmel herein, und auch Teile des westlichen und des östlichen sind zu erblicken. Die ganze Kette der hiesigen Alpen kann am Rande des Gesichtskreises gesehen werden. Wenn nun ein Gewitter in jenem Raume entsteht – und am schönsten sind Gewitterwände oder Gewitterberge, wenn sie sich über fernhinziehende Gebirge lagern, oder längs des Kammes derselben dahin gehen –, so kann er dasselbe frei betrachten, und es breitet sich vor ihm aus. Zu dem Ernste der Wolkenwände gesellt sich der Ernst der Wände von Marmor, und daß in dem Saale gar keine Geräte sind, vermehrt noch die Einsamkeit und Größe. Wenn nun vollends schon eine schwache Abenddämmerung eingetreten ist, so zeigt die Oberfläche des Marmors den Widerschein der Blitze, und während wir so auf und nieder gingen, war einige Male der reine, kalte Marmor wie in eine Glut getaucht, und nur die hölzernen Türen standen dunkel in dem Feuer, oder zeigten ihre düstere Fügung.
Ich fragte meinen Gastfreund, ob er das Marmorstandbild schon lange besitze.
»Die Zahl der Jahre ist nicht sehr groß,« antwortete er, »ich kann sie Euch aber nicht genau angeben, weil ich sie nicht in meinem Gedächtnisse behalten habe. Ich werde in meinen Büchern nachsehen, und werde Euch morgen sagen, wie lange das Bild in meinem Hause steht.«
»Ihr werdet wohl erlauben,« sagte ich, »daß ich die Gestalt öfter ansehen darf, und daß ich mir nach und nach einpräge und immer klarer mache, warum sie denn so schön ist, und welches die Merkmale sind, die auf uns eine solche Wirkung machen.«
»Ihr dürft sie besehen, so oft Ihr wollt,« antwortete er, »den Schlüssel zu der Tür des Marmorganges gebe ich Euch sehr gerne, oder Ihr könnt auch von dem Gange der Gastzimmer über die Marmortreppe hinabgehen, nur müßt Ihr sorgen, daß Ihr immer Filzschuhe in Bereitschaft habt, sie anzuziehen. Ich freue mich jetzt, daß ich den Marmorgang und die Treppe so habe machen lassen, wie sie gemacht sind. Ich habe damals schon immer daran gedacht, daß auf die Treppe ein Bild von weißem Marmor wird gestellt werden, daß dann am besten das Licht von oben darauf herabfällt, und daß die umgebenden Wände so wie der Boden eine dunklere, sanfte Farbe haben müssen. Das reine Weiß – in der lichten Dämmerung der Treppe erscheint es fast als ganz rein – steht sehr deutlich von der umgebenden tieferen Farbe ab. Was aber die Merkmale anbelangt, an denen Ihr die Schönheit erkennen wollt, so werdet Ihr keine finden. Das ist eben das Wesen der besten Werke der alten Kunst, und ich glaube, das ist das Wesen der höchsten Kunst überhaupt, daß man keine einzelnen Teile oder einzelne Absichten findet, von denen man sagen kann, das ist das schönste, sondern das Ganze ist schön, von dem Ganzen möchte man sagen, es ist das schönste; die Teile sind bloß natürlich. Darin liegt auch die große Gewalt, die solche Kunstwerke auf den ebenmäßig gebildeten Geist ausüben, eine Gewalt, die in ihrer Wirkung bei einem Menschen, wenn er altert, nicht abnimmt, sondern wächst, und darum ist es für den in der Kunst Gebildeten so wie für den völlig Unbefangenen, wenn sein Gemüt nur überhaupt dem Reize zugänglich ist, so leicht, solche Kunstwerke zu erkennen. Ich erinnere mich eines Beispieles für diese meine Behauptung, welches sehr merkwürdig ist. Ich war einmal in einem Saale von alten Standbildern, in welchem sich ein aus weißem Marmor verfertigter, auf seinem Sitze zurückgesunkener und schlafender Jüngling befand. Es kamen Landleute in den Saal, deren Tracht schließen ließ, daß sie in einem sehr entfernten Teile des Landes wohnten. Sie hatten lange Röcke, und auf ihren Schnallenschuhen lag der Staub einer vielleicht erst heute morgen vollbrachten Wanderung. Als sie in die Nähe des Jünglings kamen, gingen sie behutsam auf den Spitzen ihrer Schuhe vollends hinzu. Eine so unmittelbare und tiefe Anerkennung ist wohl selten einem Meister zu Teil geworden. Wer aber in einer bestimmten Richtung befangen ist und nur die Schönheit, die in ihr liegt, zu fassen und zu genießen versteht, oder wer sich in einzelne Reize, die die neuen Werke bringen, hineingelebt hat, für den ist es sehr schwer, solche Werke des Altertums zu verstehen, sie erscheinen ihm meistens leer und langweilig.Ihr waret eigentlich auch in diesem Falle. Wenn gleich nicht von der neuen, nur bestimmte
Weitere Kostenlose Bücher