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Werke

Werke

Titel: Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adalbert Stifter
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holte mir meinen Überrock und zog ihn an. Als ich in den Vorsaal kam, war dort ein sehr starkes Gedränge, und da er mehrere Ausgänge hatte, wogten die Menschen vielfach hin und her. Ich gab mich einem größeren Zuge hin, der langsam bei dem Hauptausgange ausmündete. Plötzlich war es mir, als ob sich meinen Blicken, die auf den Ausgang gerichtet waren, ganz nahe etwas zur Betrachtung aufdrängte. Ich zog sie zurück, und in der Tat hatte ich zwei große, schöne Augen den meinigen gegenüber, und das Angesicht des Mädchens aus der ebenerdigen Loge war ganz nahe an dem meinigen. Ich blickte sie fest an, und es war mir, als ob sie mich freundlich ansähe und mir lieblich zulächelte. Aber in dem Augenblicke war sie vorüber. Sie war mit einem Menschenstrome aus dem Logengange gekommen, dieser Strom hatte unseren Zug gekreuzt und strebte bei einem Seitengange hinaus. Ich sah sie nur noch von rückwärts, und sah, daß sie in einen schwarzseidenen Mantel gehüllt war. Ich war endlich auch bei dem Hauptausgange hinausgekommen. Dort zog ich erst meine Kappe aus der Tasche des Überrockes, setzte sie auf, und blieb noch einen Augenblick stehen, und sah den abfahrenden Wägen nach, die ihre roten Laternenlichter in die trübe Nacht hinaustrugen. Es regnete noch viel dichter als bei meinem Hereingehen. Ich schlug den Weg nach Hause ein. Ich gelangte aus den fahrenden Wägen, ich gelangte aus dem größeren Strome der Menschen, und bog in den vereinsamterenWeg ein, der im Freien durch die Reihen der Bäume der Vorstadt zuführte. Ich schritt neben den düsteren Laternen vorbei, kam wieder in die Gassen der Vorstadt, durchging sie, und war endlich in dem Hause meiner Eltern.
    Es war beinahe Mitternacht geworden. Die Mutter, welche es sich bei solchen Gelegenheiten nicht nehmen läßt, besonders auf die Gesundheit der Ihrigen bedacht zu sein, war noch angekleidet, und wartete meiner im Speisezimmer. Die Magd, welche mir die Wohnung geöffnet hatte, sagte mir dieses und wies mich dahin. Die Mutter hatte noch ein Abendessen für mich in Bereitschaft, und wollte, daß ich es einnehme. Ich sagte ihr aber, daß ich noch zu sehr mit dem Schauspiele beschäftigt sei und nichts essen könne. Sie wurde besorgt, und sprach von Arznei. Ich erwiderte ihr, daß ich sehr wohl sei, und daß mir gar nichts als Ruhe not tue.
    »Nun, wenn dir Ruhe not tut, so ruhe,« sagte sie, »ich will dich nicht zwingen, ich habe es gut gemeint.«
    »Gut gemeint wie immer, teure Mutter,« antwortete ich, »darum danke ich auch.«
    Ich ergriff ihre Hand und küßte sie. Wir wünschten uns gegenseitig eine gute Nacht, nahmen Lichter und begaben uns auf unsere Zimmer.
    Ich entkleidete mich, legte mich auf mein Bett, löschte die Lichter aus, und ließ mein heftiges Herz nach und nach in Ruhe kommen. Es war schon beinahe gegen Morgen, als ich einschlief.
    Das erste, was ich am andern Tage tat, war, daß ich der Vater um die Werke Shakespeares aus seiner Büchersammlung bat, und sie, da ich sie hatte, in meinem Zimmer zur Lesung für diesen Winter zurecht legte. Ich übte mich wieder im Englischen, damit ich sie nicht in einer Übersetzung lesen müsse.
    Als ich im vergangenen Sommer von meinem alten Gast freunde Abschied genommen hatte und an dem Saum, seines Waldes auf der Landstraße dahin ging, waren mir zwei in einem Wagen fahrende Frauen begegnet. Damals hatte ich gedacht, daß das menschliche Angesicht de beste Gegenstand für das Zeichnen sein dürfte. Diese Gedanke fiel mir wieder ein, und ich suchte mir Kennt nisse über das menschliche Antlitz zu verschaffen. Ich ging in die kaiserliche Bildersammlung und betrachtet dort alle schönen Mädchenköpfe, welche ich abgemalt fand. Ich ging öfter hin und betrachtete die Köpfe. Abe auch von lebenden Mädchen, mit denen ich zusammen traf, sah ich die Angesichter an, ja ich ging an trockene Wintertagen auf öffentliche Spaziergänge und sah die Angesichter der Mädchen an, die ich traf. Aber unter alle Köpfen, sowohl den gemalten als auch den wirklicher war kein einziger, der ein Angesicht gehabt hätte, welches sich an Schönheit nur entfernt mit dem hätte vergleichen können, welches ich an dem Mädchen in der Loge gesehen hatte. Dieses eine wußte ich, obwohl ich mir das Angesicht eigentlich gar nicht mehr vorstellen konnte, und obwohl ich es, wenn ich es wieder gesehen hätte, nicht erkannt hätte. Ich hatte es in einer Ausnahmsstellung gesehen, und im ruhigen Leben mußte e gewiß ganz anders

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