Werke
sein.
Mein Vater hatte ein Bild, auf welchem ein lesendes Kind gemalt war. Es hatte eine so einfache Miene, nichts war in derselben als die Aufmerksamkeit des Lesens, man sah auch nur die eine Seite des Angesichtes, und doch war alles so hold. Ich versuchte das Angesicht zu zeichnen; allein ich vermochte durchaus nicht die einfachen Züge, von denen noch dazu das Auge nicht zu sehen war, sondern durch das Lid beschattet wurde, auch nur entfernt mit Linien wieder zu geben. Ich durfte mir das Bild herabnehmen, ich durfte ihm eine Stellung geben, wie ich wollte, um die Nachahmung zu versuchen; sie gelang nicht, wenn ich auch alle meine Fertigkeit, die ich im Zeichnen anderer Gegenstände bereits hatte, darauf anwendete. Der Vater sagte mir endlich, daß die Wirkung dieses Bildes vorzüglich in der Zartheit der Farbe liege, und daß es daher nicht möglich sei, dieselbe in schwarzen Linien nachzuahmen. Er machte mich überhaupt, da er meine Bestrebungen sah, mehr mit den Eigenschaften der Farben bekannt, und ich suchte mich auch in diesen Dingen zu unterrichten und zu üben.
Sonderbar war es, daß ich nie auf den Gedanken kam, meine Schwester zu betrachten, ob ihre Züge zum Nachzeichnen geeignet wären, oder den Wunsch hegte, ihr Angesicht zu zeichnen, obgleich es in meinen Augen nach dem des Mädchens in der Loge das schönste auf der Welt war. Ich hatte nie den Mut dazu. Oft kam mir auch jetzt noch der Gedanke, so schön und rein wie Klotilde könne doch nichts mehr auf der Erde sein; aber da fielen mir die Züge des weinenden Mädchens ein, das die Ihrigen zu beruhigen gestrebt hatten, und von dem ich mir einbildete, daß es mich im Vorsaale des Theaters freundlich angeblickt habe, und ich mußte sie vorziehen. Ich konnte sie mir zwar nicht vorstellen; aber es schwebte mir ein unbestimmtes, dunkles Bild von Schönheit vor der Seele. Die Freundinnen meiner Schwester oder andere Mädchen, mit denen ich gelegentlich zusammen kam, hatten manche liebe, angenehme Eigenschaften in ihrem Angesichte, ich betrachtete sie, und dachte mir, wie dieses oder jenes zu zeichnen wäre, aber ich mochte sie ebenfalls nie ersuchen, und so kam ich nicht dazu, ein lebendes vor mir befindliches Angesicht zu zeichnen. Ich wiederholte also die Züge in der Erinnerung oder zeichnete nach Gemälden. Man machte mich endlich auch darauf aufmerksam, daß ich immer Mädchenköpfe entwerfe. Ich war beschämt, und begann später Männer, Greise, Frauen, ja auch andere Teile des Körpers zu zeichnen, so weit ich sie in Vorlagen oder Gipsabgüssen bekommen konnte.
Trotz dieser Bestrebungen, welchen nach dem Grundsatze unsers Hauses kein Hindernis in den Weg gelegt wurde, vernachlässigte ich meine Hauptbeschäftigung doch nicht. Es tat mir sehr wohl, zu Hause unter meinen Sammlungen herum zu gehen, ich dachte oft an die Worte des alten Mannes in dem Rosenhause, und im Gegensatze zu den Festen, zu denen ich geladen war, oder selbst zu Spaziergängen und Geschäftsbesuchen war mir meine Wohnung wie eine holde, bedeutungsvolle Einsamkeit, die mir noch lieber wurde, weil ihre Fenster auf Gärten und wenig geräuschvolle Gegenden hinausgingen.
Die Heiterkeiten wurden in der Stadt immer größer, je näher der Winter seinem Ende zuging, und ich hatte in dieser Hinsicht und oft auch in anderer mehr Ursache und Pflicht, zu dieser oder jener Familie einen Gang zu tun.
Bei einer solchen Gelegenheit ereignete sich mit mir ein Vorfall, der mich nach dem Betwohnen bei der Aufführung des Lear in jenem Winter am meisten beschäftigte.
Wir waren seit Jahren mit einer Familie sehr befreundet, welche in der Hofburg wohnte. Es war die Witwe und Tochter eines berühmten Mannes, der einmal in großem Ansehen gestanden war. Da der Vater ein bedeutendes Hofamt bekleidet hatte, wurde die Tochter nach seinem Tode auch ein Hoffräulein, weshalb sie mit der Mutter in der Burg wohnte. Von den Söhnen war einer in der Armee, der andere bei einer Gesandtschaft. Wenn das Fräulein nicht eben im Dienste war, wurde zuweilen abends ein kleiner Kreis zur Mutter geladen, in welchem etwas vorgelesen, gesprochen oder Musik gemacht wurde. Da die Mutter etwas älter wurde, spielte man sogar zuweilen Karten. Wir waren öfter an solchen Abenden bei dieser Familie. In jenem Winter hatte ich ein Buch, welches mir von der Mutter des Hoffräuleins war geliehen worden, länger behalten, als es eigentlich die Höflichkeit erlaubte. Deshalb ging ich eines Mittags hin, um das Buch persönlich
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