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Werke

Werke

Titel: Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gotthold Ephraim Lessing
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dritten, oder der vierten Klasse; der Dichter müsse nun überlegen, welcher hier der schicklichste und beste sei. Diese Ermordung als eine Begebenheit der erstern Klasse zu behandeln, finde darum nicht Statt: weil sie nach der Historie wirklich geschehen müsse, und durch den Orest geschehen müsse. Nach der zweiten, darum nicht: weil sie zu gräßlich sei. Nach der vierten, darum nicht: weil Klytemnestra dadurch abermals gerettet würde, die doch durchaus nicht gerettet werden solle. Folglich bleibe ihm nichts, als die dritte Klasse übrig.
    Die dritte! Aber Aristoteles gibt ja der vierten den Vorzug; und nicht bloß in einzeln Fällen, nach Maßgebung der Umstände, sondern überhaupt. Der ehrliche Dacier macht es öftrer so: Aristoteles behält bei ihm Recht, nicht weil er Recht hat, sondern weil er Aristoteles ist. Indem er auf der einen Seite eine Blöße von ihm zu decken glaubt, macht er ihm auf einer andern eine eben so schlimme. Wenn nun der Gegner die Besonnenheit hat, anstatt nach jener, in diese zu stoßen: so ist es ja doch um die Untrüglichkeit seines Alten geschehen, an der ihm, im Grunde noch mehr als an der Wahrheit selbst zu liegen scheinet. Wenn so viel auf die Übereinstimmung der Geschichte ankömmt, wenn der Dichter allgemein bekannte Dinge aus ihr, zwar lindern, aber nie gänzlich verändern darf: wird es unter diesen nicht auch solche geben, die durchaus nach dem ersten oder zweiten Plane behandelt werden müssen? Die Ermordung der Klytemnestra müßte eigentlich nach dem zweiten vorgestellet werden; denn Orestes hat sie wissentlich und vorsetzlich vollzogen: der Dichter aber kann den dritten wählen, weil dieser tragischer ist, und der Geschichte doch nicht geradezu widerspricht. Gut, es sei so: aber z. E. Medea, die ihre Kinder ermordet? Welchen Plan kann hier der Dichter anders einschlagen als den zweiten? Denn sie muß sie umbringen, und sie muß sie wissentlich umbringen; beides ist aus der Geschichte gleich allgemein bekannt. Was für eine Rangordnung kann also unter diesen Planen Statt finden? Der in einem Falle der vorzüglichste ist, kömmt in einem andern gar nicht in Betrachtung. Oder um den Dacier noch mehr einzutreiben: so mache man die Anwendung, nicht auf historische, sondern auf bloß erdichtete Begebenheiten. Gesetzt, die Ermordnung der Klytemnestra wäre von dieser letztern Art, und es hätte dem Dichter frei gestanden, sie vollziehen oder nicht vollziehen zu lassen, sie mit oder ohne völlige Kenntnis vollziehen zu lassen. Welchen Plan hätte er dann wählen müssen, um eine so viel als möglich vollkommene Tragödie daraus zu machen? Dacier sagt selbst: den vierten; denn wenn er ihm den dritten vorziehe, so geschähe es bloß aus Achtung gegen die Geschichte. Den vierten also? Den also, welcher sich glücklich schließt? Aber die besten Tragödien, sagt eben der Aristoteles, der diesem vierten Plane den Vorzug vor allen erteilet, sind ja die, welche sich unglücklich schließen? Und das ist ja eben der Widerspruch, den Dacier heben wollte. Hat er ihn denn also gehoben? Bestätiget hat er ihn vielmehr.
    { ‡ }
Acht und dreißigstes Stück
    Den 8ten September, 1767
    Ich bin es auch nicht allein, dem die Auslegung des Dacier keine Genüge leistet. Unsern deutschen Übersetzer der Aristotelischen Dichtkunst, (23) hat sie eben so wenig befriediget. Er trägt seine Gründe dagegen vor, die zwar nicht eigentlich die Ausflucht des Dacier bestreiten, aber ihn doch sonst erheblich genug dünken, um seinen Autor lieber gänzlich im Stiche zu lassen, als einen neuen Versuch zu wagen, etwas zu retten, was nicht zu retten sei. »Ich überlasse, schließt er, einer tiefern Einsicht, diese Schwierigkeiten zu heben; ich kann kein Licht zu ihrer Erklärung finden, und scheinet mir wahrscheinlich, daß unser Philosoph dieses Kapitel nicht mit seiner gewöhnlichen Vorsicht durchgedacht habe.«
    Ich bekenne, daß mir dieses nicht sehr wahrscheinlich scheinet. Eines offenbaren Widerspruchs macht sich ein Aristoteles nicht leicht schuldig. Wo ich dergleichen bei so einem Manne zu finden glaube, setze ich das größere Mißtrauen lieber in meinen, als in seinen Verstand. Ich verdoppele meine Aufmerksamkeit, ich überlese die Stelle zehnmal, und glaube nicht eher, daß er sich widersprochen, als bis ich aus dem ganzen Zusammenhange seines Systems ersehe, wie und wodurch er zu diesem Widerspruche verleitet worden. Finde ich nichts, was ihn dazu verleiten können, was ihm diesen Widerspruch

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