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Werke

Werke

Titel: Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gotthold Ephraim Lessing
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erhebet, und auf die Furcht, die jeden Zuschauer befalle, daß der Streich geschehen werde, ehe der alte Diener dazu kommen könne. Aristoteles erwähnet dieses Kresphonts zwar ohne Namen des Verfassers; da wir aber, bei dem Cicero und mehrern Alten, einen Kresphont des Euripides angezogen finden, so wird er wohl kein anderes, als das Werk dieses Dichters gemeinet haben.
    Der Pater Tournemine sagt in dem obgedachten Briefe: »Aristoteles, dieser weise Gesetzgeber des Theaters, hat die Fabel der Merope in die erste Klasse der tragischen Fabeln gesetzt (a mis ce sujet au premier rang des sujets tragiques.) Euripides hatte sie behandelt, und Aristoteles meldet, daß, so oft der Kresphont des Euripides auf dem Theater des witzigen Athens vorgestellet worden, dieses an tragische Meisterstücke so gewöhnte Volk ganz außerordentlich sei betroffen, gerührt und entzückt worden.« – Hübsche Phrases, aber nicht viel Wahrheit! Der Pater irret sich in beiden Punkten. Bei dem letztern hat er den Aristoteles mit dem Plutarch vermengt, und bei dem erstern den Aristoteles nicht recht verstanden. Jenes ist eine Kleinigkeit, aber über dieses verlohnet es der Mühe, ein Paar Worte zu sagen, weil mehrere den Aristoteles eben so unrecht verstanden haben. Die Sache verhält sich, wie folget. Aristoteles untersucht, in dem vierzehnten Kapitel seiner Dichtkunst, durch was eigentlich für Begebenheiten Schrecken und Mitleid erreget werde. Alle Begebenheiten, sagt er, müssen entweder unter Freunden, oder unter Feinden, oder unter gleichgültigen Personen vorgehen. Wenn ein Feind seinen Feind tötet, so erweckt weder der Anschlag noch die Ausführung der Tat sonst weiter einiges Mitleid, als das allgemeine, welches mit dem Anblicke des Schmerzlichen und Verderblichen überhaupt, verbunden ist. Und so ist es auch bei gleichgültigen Personen. Folglich müssen die tragischen Begebenheiten sich unter Freunden eräugnen; ein Bruder muß den Bruder, ein Sohn den Vater, eine Mutter den Sohn, ein Sohn die Mutter töten, oder töten wollen, oder sonst auf eine empfindliche Weise mißhandeln, oder mißhandeln wollen. Dieses aber kann entweder mit, oder ohne Wissen und Vorbedacht geschehen; und da die Tat entweder vollführt oder nicht vollführt werden muß: so entstehen daraus vier Klassen von Begebenheiten, welche den Absichten des Trauerspiels mehr oder weniger entsprechen. Die erste: wenn die Tat wissentlich, mit völliger Kenntnis der Person, gegen welche sie vollzogen werden soll, unternommen, aber nicht vollzogen wird. Die zweite: wenn sie wissentlich unternommen, und wirklich vollzogen wird. Die dritte: wenn die Tat unwissend, ohne Kenntnis des Gegenstandes, unternommen und vollzogen wird, und der Täter die Person, an der er sie vollzogen, zu spät kennen lernet. Die vierte: wenn die unwissend unternommene Tat nicht zur Vollziehung gelangt, indem die darein verwickelten Personen einander noch zur rechten Zeit erkennen. Von diesen vier Klassen gibt Aristoteles der letztern den Vorzug; und da er die Handlung der Merope, in dem Kresphont, davon zum Beispiele anführet: so haben Tournemine, und andere, dieses so angenommen, als ob er dadurch die Fabel dieses Trauerspiels überhaupt von der vollkommensten Gattung tragischer Fabeln zu sein erkläre.
    Indes sagt doch Aristoteles kurz zuvor, daß eine gute tragische Fabel sich nicht glücklich, sondern unglücklich enden müsse. Wie kann dieses beides bei einander bestehen? Sie soll sich unglücklich enden, und gleichwohl läuft die Begebenheit, welche er nach jener Klassifikation allen andern tragischen Begebenheiten vorziehet, glücklich ab. Widerspricht sich nicht also der große Kunstrichter offenbar?
    Victorius, sagt Dacier, sei der einzige, welcher diese Schwierigkeit gesehen; aber da er nicht verstanden, was Aristoteles eigentlich in dem ganzen vierzehnten Kapitel gewollt: so habe er auch nicht einmal den geringsten Versuch gewagt, sie zu heben. Aristoteles, meinet Dacier, rede dort gar nicht von der Fabel überhaupt, sondern wolle nur lehren, auf wie mancherlei Art der Dichter tragische Begebenheiten behandeln könne, ohne das Wesentliche, was die Geschichte davon meldet, zu verändern, und welche von diesen Arten die beste sei. Wenn z. E. die Ermordung der Klytemnestra durch den Orest, der Inhalt des Stückes sein sollte, so zeige sich, nach dem Aristoteles, ein vierfacher Plan, diesen Stoff zu bearbeiten, nämlich entweder als eine Begebenheit der erstern, oder der zweiten, oder der

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