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Werke

Werke

Titel: Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gotthold Ephraim Lessing
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Telephontes heranwuchs, desto unruhiger ward Polyphontes. Er konnte sich nichts Gutes von ihm gewärtigen, und versprach also demjenigen eine große Belohnung, der ihn aus dem Wege räumen würde. Dieses erfuhr Telephontes; und da er sich nunmehr fähig fühlte, seine Rache zu unternehmen, so machte er sich heimlich aus Ätolien weg, ging nach Messenien, kam zu dem Tyrannen, sagte, daß er den Telephontes umgebracht habe, und verlangte die ihm dafür ausgesetzte Belohnung. Polyphontes nahm ihn auf, und befahl, ihn so lange in seinem Palaste zu bewirten, bis er ihn weiter ausfragen könne. Telephontes ward also in das Gastzimmer gebracht, wo er vor Müdigkeit einschlief. Indes kam der alte Diener, welchen bisher Mutter und Sohn zu ihren wechselseitigen Botschaften gebraucht, weinend zu Meropen, und meldete ihr, daß Telephontes aus Ätolien weg sei, ohne daß man wisse, wo er hingekommen. Sogleich eilet Merope, der es nicht unbekannt geblieben, wessen sich der angekommene Fremde rühmte, mit einer Axt nach dem Gastzimmer, und hätte ihn im Schlafe unfehlbar umgebracht, wenn nicht der Alte, der ihr dahin nachgefolgt, den Sohn noch zur rechten Zeit erkannt, und die Mutter an der Freveltat verhindert hätte. Nunmehr machten beide gemeinschaftliche Sache, und Merope stellte sich gegen ihren Gemahl ruhig und versöhnt. Polyphontes dünkte sich aller seiner Wünsche gewähret, und wollte den Göttern durch ein feierliches Opfer seinen Dank bezeigen. Als sie aber alle um den Altar versammelt waren, führte Telephontes den Streich, mit dem er das Opfertier fällen zu wollen sich stellte, auf den König; der Tyrann fiel, und Telephontes gelangte zu dem Besitze seines väterlichen Reiches. (29) Auch hatten, schon in dem sechszehnten Jahrhunderte, zwei italienische Dichter, Joh. Bapt. Liviera und Ponponio Torelli, den Stoff zu ihren Trauerspielen, Kresphont und Merope, aus dieser Fabel des Hyginus genommen, und waren sonach, wie Maffei meinet, in die Fußtapfen des Euripides getreten, ohne es zu wissen. Doch dieser Überzeugung ohngeachtet, wollte Maffei selbst, sein Werk so wenig zu einer bloßen Divination über den Euripides machen, und den verlornen Kresphont in seiner Merope wieder aufleben lassen, daß er vielmehr mit Fleiß von verschiednen Hauptzügen dieses vermeintlichen Euripidischen Planes abging, und nur die einzige Situation, die ihn vornehmlich darin gerührt hatte, in aller ihrer Ausdehnung zu nutzen suchte.
    Die Mutter nämlich, die ihren Sohn so feurig liebte, daß sie sich an dem Mörder desselben mit eigner Hand rächen wollte, brachte ihn auf den Gedanken, die mütterliche Zärtlichkeit überhaupt zu schildern, und mit Ausschließung aller andern Liebe, durch diese einzige reine und tugendhafte Leidenschaft sein ganzes Stück zu beleben. Was dieser Absicht also nicht vollkommen zusprach, ward verändert; welches besonders die Umstände von Meropens zweiter Verheiratung und von des Sohnes auswärtiger Erziehung treffen mußte. Merope mußte nicht die Gemahlin des Polyphonts sein; denn es schien dem Dichter mit der Gewissenhaftigkeit einer so frommen Mutter zu streiten, sich den Umarmungen eines zweiten Mannes überlassen zu haben, in dem sie den Mörder ihres ersten kannte, und dessen eigene Erhaltung es erforderte, sich durchaus von allen, welche nähere Ansprüche auf den Thron haben könnten, zu befreien. Der Sohn mußte nicht bei einem vornehmen Gastfreunde seines väterlichen Hauses, in aller Sicherheit und Gemächlichkeit, in der völligen Kenntnis seines Standes und seiner Bestimmung, erzogen sein: denn die mütterliche Liebe erkaltet natürlicher Weise, wenn sie nicht durch die beständigen Vorstellungen des Ungemachs, der immer neuen Gefahren, in welche ihr abwesender Gegenstand geraten kann, gereizet und angestrenget wird. Er mußte nicht in der ausdrücklichen Absicht kommen, sich an dem Tyrannen zu rächen; er muß nicht von Meropen für den Mörder ihres Sohnes gehalten werden, weil er sich selbst dafür ausgibt, sondern weil eine gewisse Verbindung von Zufällen diesen Verdacht auf ihn ziehet: denn kennt er seine Mutter, so ist ihre Verlegenheit bei der ersten mündlichen Erklärung aus, und ihr rührender Kummer, ihre zärtliche Verzweiflung hat nicht freies Spiel genug.
    Und diesen Veränderungen zu Folge, kann man sich den Maffeischen Plan ungefähr vorstellen. Polyphontes regieret bereits funfzehn Jahre, und doch fühlet er sich auf dem Throne noch nicht befestiget genug. Denn das Volk ist

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