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Werke

Werke

Titel: Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gotthold Ephraim Lessing
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einsehen, muß, bei der geringsten schicklichen Gelegenheit, ihren Groll an den Tag legen, und die Ausführung ihres Vorhabens beschleunigen zu können wünschen. Aber zu welcher Höhe dieser Groll steigen darf? d.i. wie stark Elektra ihre Rachsucht ausdrücken darf, ohne daß ein Mann, der mit dem menschlichen Geschlechte und mit den Wirkungen der Leidenschaften im Ganzen bekannt ist, dabei ausrufen kann: das ist unwahrscheinlich? Dieses auszumachen, wird die abstrakte Theorie von wenig Nutzen sein. So gar eine nur mäßige Bekanntschaft mit dem wirklichen Leben, ist hier nicht hinlänglich uns zu leiten. Man kann eine Menge Individua bemerkt haben, welche den Poeten, der den Ausdruck eines solchen Grolles bis auf das Äußerste getrieben hätte, zu rechtfertigen scheinen. Selbst die Geschichte dürfte vielleicht Exempel an die Hand geben, wo eine tugendhafte Erbitterung auch wohl noch weiter getrieben worden, als es der Dichter hier vorgestellet. Welches sind denn nun also die eigentlichen Grenzen derselben, und wodurch sind sie zu bestimmen? Einzig und allein durch Bemerkung so vieler einzeln Fälle als möglich; einzig und allein vermittelst der ausgebreitesten Kenntnis, wie viel eine solche Erbitterung über dergleichen Charaktere unter dergleichen Umständen, im wirklichen Leben gewöhnlicher Weise vermag. So verschieden diese Kenntnis in Ansehung ihres Umfanges ist, so verschieden wird denn auch die Art der Vorstellung sein. Und nun wollen wir sehen, wie der vorhabende Charakter von dem Euripides wirklich behandelt worden.
    In der schönen Szene, welche zwischen der Elektra und dem Orestes vorfällt, von dem sie aber noch nicht weiß, daß er ihr Bruder ist, kömmt die Unterredung ganz natürlich auf die Unglücksfälle der Elektra, und auf den Urheber derselben, die Klytämnestra, so wie auch auf die Hoffnung, welche Elektra hat, von ihren Drangsalen durch den Orestes befreiet zu werden. Das Gespräch, wie es hierauf weiter gehet, ist dieses:
    Orestes
. Und Orestes? Gesetzt, er käme nach Argos zurück –
    Elektra
. Wozu diese Frage, da er, allem Ansehen nach, niemals zurückkommen wird?
    Orestes
. Aber gesetzt, er käme! Wie müßte er es anfangen, um den Tod seines Vaters zu rächen?
    Elektra
. Sich eben des erkühnen, wessen die Feinde sich gegen seinen Vater erkühnten.
    Orestes
. Wolltest du es wohl mit ihm wagen, deine Mutter umzubringen?
    Elektra
. Sie mit dem nämlichen Eisen umbringen, mit welchem sie meinen Vater mordete!
    Orestes
. Und darf ich das, als deinen festen Entschluß, deinem Bruder vermelden?
    Elektra
. Ich will meine Mutter umbringen, oder nicht leben!
    Das Griechische ist noch stärker:
    Θανοιμι, μητρος άιμ’ επισφαξασ’ εμης.
    Ich will gern des Todes sein, sobald ich meine Mutter umgebracht habe!
    Nun kann man nicht behaupten, daß diese letzte Rede schlechterdings unnatürlich sei. Ohne Zweifel haben sich Beispiele genug eräugnet, wo unter ähnlichen Umständen die Rache sich eben so heftig ausgedrückt hat. Geichwohl, denke ich, kann uns die Härte dieses Ausdrucks nicht anders als ein wenig beleidigen. Zum mindesten hielt Sophokles nicht für gut, ihn so weit zu treiben. Bei ihm sagt Elektra unter gleichen Umständen nur das: Jetzt sei dir die Ausführung überlassen! Wäre ich aber allein geblieben, so glaube mir nur: beides hätte mir gewiß nicht mißlingen sollen; entweder mit Ehren mich zu befreien, oder mit Ehren zu sterben!
    Ob nun diese Vorstellung des Sophokles der Wahrheit, in so fern sie aus einer ausgebreitetern Erfahrung, d.i. aus der Kenntnis der menschlichen Natur überhaupt, gesammelt worden, nicht weit gemäßer ist, als die Vorstellung des Euripides, will ich denen zu beurteilen überlassen, die es zu beurteilen fähig sind. Ist sie es, so kann die Ursache keine andere sein, als die ich angenommen: daß nämlich Sophokles seine Charaktere so geschildert, als er unzähligen von ihm beobachteten Beispielen der nämlichen Gattung zu Folge, glaubte, daß sie sein sollten; Euripides aber so, als er in der engeren Sphäre seiner Beobachtungen erkannt hatte, daß sie wirklich wären. –
    Vortrefflich! Auch unangesehen der Absicht, in welcher ich diese langen Stellen des Hurd angeführet habe, enthalten sie unstreitig so viel feine Bemerkungen, daß es mir der Leser wohl erlassen wird, mich wegen Einschaltung derselben zu entschuldigen. Ich besorge nur, daß er meine Absicht selbst darüber aus den Augen verloren. Sie war aber diese: zu

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