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Werke

Werke

Titel: Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Theodor Storm
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herabgerissen?« murmelte der Alte; als er aber das Bahrtuch vom Boden hob, sah er darunter den Leichnam des Knaben und sah die dunkeln Locken über den geschlossenen Augenlidern liegen.
    Der alte Mann stürzte in die Knie und warf sich jammernd über ihn. Er löste die Kleider und suchte an dem Körper seines Lieblings nach der Spur des Todes. Aber er fand nichts als nur über dem Herzen einen dunkelroten Flecken. Lange blieb er noch finster und grübelnd auf den Knien liegen. Dann hüllte er den Knaben in das Bahrtuch, nahm ihn auf seine Arme und trug ihn in das Erdgeschoß hinab nach dem Zimmer der Gräfin. Als er eintrat, sah er die stolze Frau todbleich und zitternd vor dem Obersten stehen, der, wie es schien, halb mit Gewalt ihre Hand erfaßt hielt.
    Da legte der Alte den Leichnam zwischen die beiden auf den Boden, und fest die Augen auf sie heftend, sprach er: »Der Erbherr Graf Kuno ist tot; Euer Söhnlein, Frau Gräfin, ist jetzt der Erbe dieser Herrschaft.«
     
    Es mochte ein Monat nach dem Begräbnis des jungen Erbherrn sein, da lehnte die Gräfin eines Nachmittags an dem Geländer eines kleinen Söllers, der über der Tiefe schwebend von ihrem Zimmer den Austritt in die freie Luft gestattete. Der kleine Wolf stand neben ihr und betrachtete eine Schar von Vögeln, welche in den Wipfeln der von unten heraufragenden Föhren und Eichen mit lautem Geschrei ihr Wesen trieben.
    »Sieh nur!« sagte die Gräfin. »Sie beschreien den Kauz; dort sitzt er neben dem Astloch in der Eiche.« Und sie wies mit dem Finger vor sich hin.
    Des Knaben Augen folgten mit Begierde. »Ich seh ihn schon, Mutter«, sagte er; »das ist der Totenvogel; er schrie vor meinem Fenster, als der arme Kuno starb.«
    »Hol deine Armbrust und schieß ihn!« sagte die Mutter.
    Der Knabe sprang aus dem Zimmer, die Treppen hinab und in den Stall. Dort lag die Armbrust neben seinem kleinen Roß. Aber die Sehne war zerrissen; er hatte sie lange nicht gebraucht; denn Kuno war nicht mehr da, der ihm die Bolzen schnitzte und den Holzvogel auf die Stange steckte. – Da lief er in das Schloß zurück. Er entsann sich, daß der Bruder seine Armbrust oben in der Rüstkammer aufzuhängen pflegte. Als er dort in dem entlegenen Teile des Schlosses angekommen war und sich mit Mühe durch die schwere Eichentür gedrängt hatte, leuchtete ihm der Spiegel des Cyprianus mit seinem bläulichen Schein entgegen. Die Stahlfacetten des Rahmens blitzten im letzten Strahl der Abendsonne. Der Knabe hatte das noch nie gesehen; denn wenn er auch einmal mit dem Bruder hieher gekommen, so war doch das Kunstwerk stets mit dem schweren Bahrtuch verhangen gewesen. Jetzt stand er davor und besah staunend sein eigenes Bild in diesem Glanze; er schien die Armbrust ganz vergessen zu haben. – Es mußte indessen außer ihm selbst noch etwas in dem Spiegel sein, das seinen ganzen Sinn gefangennahm; denn er kniete nieder und legte die Stirn an das Glas, um so nahe als möglich hineinzuschauen.
    Plötzlich aber griff er mit beiden Händen nach dem Herzen. Dann sprang er mit einem Wehschrei in die Höhe. »Hülfe!« schrie er, »Hülfe!« und noch einmal mit durchdringendem Zeter: »Hülfe!« Da hörte es die Mutter unten auf dem Söller; und in Todesangst irrte sie von Gang zu Gang, von Tür zu Tür. »Wolf! Wo bist du, Wolf?« rief sie; »so gib doch Antwort!« Und endlich kam sie in die rechte Tür. Da lag ihr Kind, sich im Todeskrampfe auf dem Boden windend.
    Sie warf sich über ihn. »Wolf! Wolf! Was ist geschehen?« rief sie.
    Der Knabe regte die verblaßten Lippen. »Es hat mir einen Schlag aufs Herz getan«, stammelte er.
    »Wer, wer tat es?« flüsterte die Mutter. »Wolf, sprich nur ein einziges Wort noch; wer hat das getan?«
    Der Knabe wies mit erhobenem Finger in den Spiegel. Und das sterbende Kind in ihren Armen haltend, blickte sie vorgebeugt in das Glas des Cyprianus. Aber während des Schauens trat das Entsetzen in ihr Angesicht, und ihr lichtblaues Auge wurde steinern wie ein Diamant. Denn bei dem Abendschein, der durch die trüben Fenster brach, sah sie im tiefsten Grunde wie zusammengeballten Nebel die Gestalt eines Kindes; wie trauernd kauerte es am Boden und schien zu schlafen. Sie warf einen scheuen Blick hinter sich in das Zimmer; aber dort lag nur die Dämmerung in den Winkeln. Wieder, als ob es sie bannte, blickte sie mit gespannten Augen in den Spiegel, und noch immer war es dort. – Da fühlte sie den Kopf des kleinen Wolf ihren Armen entgleiten, und in

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